TÜSN – Am Ende bleibt dir nichts (CD-Kritik)

TÜSNNahezu vier Jahre ist es her, dass mit “Trendelburg” ein absoluter Hochkaräter des Alternative Pops seinen Weg in die Hände und Ohren der Hörerschaft fand. Höchste Zeit also, dass TÜSN nachlegen: Im Januar 2023 erscheint das dritte Album dieser herrlichen Berliner Kapelle und trägt den epischen sowie stilecht deprimierten Titel “Am Ende bleibt dir nichts”. Mit einem derart furiosen Vorgänger hat es die Band nicht leicht, doch Singles wie „Ruinieren wir uns heile“ waren bereits ausgesprochen vielversprechend.

So beginnt der neue Longplayer schon mächtig düster mit schwermütigen, atmosphärischen Synthies und Worten wie „Jedes Gefühl eine Illusion“ und „Schritt für Schritt gaukeln wir uns nach vorn“ – der Existenzialismus detoniert in einer Uptempo-Synthpop-Nummer namens „Jetzt & für immer“, Snöts facettenreicher Gesang oszilliert zwischen desillusioniertem Hauchen und fieberhaftem Rufen hin und her. Das Wegtanzen der Teenage Angst, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, Pessimismus und das Feiern des Moments, all das steckt in diesem Song. Willkommen zurück!

Sozialkritisch wird es auf „741 Millionen“ und wird lyrisch teilweise sehr direkt: hier werden sowohl „Lifestyle-Linke“ auf der einen und Elon Musk auf der anderen Seite direkt erwähnt. Der Titel bezieht sich hierbei auf das Geld, was Elon Musk und Jeff Bezos zusammengerechnet im Jahr 2020 verdient haben – pro Tag, im Jahr der Krise, die Abertausenden den Job kostete. „Von dem Kuchen ist genug für alle da, aber ich teile nicht“, heißt es im Refrain. Bissiger Antikapitalismus ist bei mir immer gern zu sehen, dieser Song stünde bei mir also selbst dann hoch im Kurs, wäre er nicht auch noch schön schmissig und von solcher musikalischer Saftigkeit. Schöne Melodien, zugespitzte Texte, klare Kante zu durch ihre Schnörkelhaftigkeit fröhlich machender Musik – diese Nummer trifft den Nagel auf den Kopf.

Snöt arbeitet auf diesem Album teilweise mit einer etwas weniger affektierten Art des Gesangs, und sie steht ihm sehr gut zu Angesicht. „Blinde Scheiben“ ist ein fantastischer Beweis dafür, hier klingt er entspannter, teilweise aber auch frecher, und mindestens genauso authentisch. Musikalisch wird es hier etwas unruhiger, gerade die Drumpattern sind sehr ungehalten, im Refrain entfaltet dieses Lied fast den Charme einer Crystal Castles-Nummer, es klingt groß und voll, fast ein bisschen drüber, und dennoch so wahnsinnig traurig. Die Lyrik ist auch hier wieder präzise, erzählt in Kombination mit Intonation und Instrumental von einer mir sehr gut bekannten Stimmung: einer fast manischen, rauschhaften Betrübtheit. „Blinde Fensterscheiben helfen nicht, sie warten nur darauf, dass sie irgendwer zerhaut.“ Es ist ein Berlin-Song.

Die synthetischen Bläser werden auf der Uptempo-Nummer „Was hast du heute Abend vor“ rausgeholt, die durch ihren fröhlich-verliebten Text der Kategorie „Ich find dich toll, lass uns ausgehen“ fast etwas Boygroup-haftes hat – wären da nicht so wunderbare Brechungen wie „Ich stell mir vor, du stellst dir vor, wie wir uns miteinander verlustieren“. Das Wort „verlustieren“ in einem unverhohlenen Popsong – das gibt schon mal reichlich Pluspunkte, insbesondere wenn danach davon die Rede ist, man wolle sich „prächtig amüsieren“. Boomer-Sprache clasht mit Happy-Love-Upbeat. Was ist besser als ein sauguter Popsong? Ein sauguter ironischer Popsong.

„Ruinieren wir uns heile“ überzeugt mit druckvollem Bass, schönen Piano-Akzenten und einer gewissen salonhaften Leichtfüßigkeit. „Keiner braucht jetzt Gebete, bring die Hausapotheke mit zur Kaltgetränketheke […] Die Frage nach Vernunft hat sich inzwischen selbst geklärt“ – eine Feier der Selbstmedikation, ein Hoch auf den Eskapismus! Was hier in erster Linie erstmal gut gelaunt und nach einer schicken Party klingt, beschreibt im Endeffekt etwas ziemlich Trauriges: die Betäubung des Existenzialismus und das Behandeln der Symptome der eigenen Krise mit Drogen, die das Problem nicht lösen, aber es eine Weile lang vergessen lassen. Dass dieses Lied diesen Zwiespalt zwischen so viel Energie und ungestümer Feierlichkeit so subtil einwebt, ist ihm hoch anzurechnen.

Mit „Vernavigiert“ gibt es die erste richtige Ballade, die primär von der enormen stimmlichen Kraft von Snöt getragen wird und diese mit lieblichen Piano- und Hammond-Orgel-Klängen fabelhaft akzentuiert. Der Song nimmt sich musikalisch etwas zurück und legt den Fokus auf Poesie und seichte, liebliche Harmonien, welche die emotionale Stärke nur noch stärker wirken lassen. Voller Symbolik und Zerrissenheit ist dieser Text, begleitet von diesen gleichsam leichten und doch so deprimierenden Keyboards.

Synthpoppiger wird es auf dem Titeltrack „Am Ende bleibt dir nichts“, der teilweise fast Euro- dance-artig daherkommt, der Rhythmus kickt in die Beine, die Exaltiertheit des Gesangs unterstreicht die Energie des Songs, dessen Message trotz des getragenen Titels durchaus positiv ist: „Am Ende bleibt dir nichts, nichts, nichts als die Liebe“. Es ist schwer in Worte zu fassen, was diese Kombination aus Groove, zuppelnden Sounds und schnittiger Performance in mir auslöst – am treffendsten ist es wohl, meine Reaktion auf diesen Song zu beschreiben: Ein zustimmendes Nicken und ein ausdrückliches „Jawoll“.

Eine deutliche Rolle spielen erstmals die Gitarren auf „Auf Wiedersehen“, das sprachgewaltig und bildreich – wenig überraschend – einen Abschied beschreibt. Mit mediterranerem Charakter und „aaahaaahaaa“-Chören wird das Streben nach der Ferne unterstrichen, und ich komme auch nicht umhin, hier eine fabelhafte Textstelle zu zitieren: “Wir hatten unser Netz gewoben, es war mir Trampolin und Boden.” Als jemand, der sich selbst mit Lyrik beschäftigt, zerreißt es einen beinahe vor Neid über solche Zeilen.

Wenn es um „Algorithmen“ und damit ja irgendwie um menschliche Maschinen geht, ist es ja klar, dass es hier mächtig elektrisch wird und die 80er ein wenig von der Leine gelassen werden. Die Vermenschlichung ist hierbei das Hauptthema des Songs: hier wird beschrieben, wie die selbstlernende Automatisierung in Windeseile Information anhäuft, übertragen auf eine Biographie, und auf allzu humane Probleme: “Kann man fühlen mit Nullen und Einsen? Ich glaube, digitaler Sex ist scheiße!” – Auch hier brillieren TÜSN nebst musikalischer Vollmundigkeit mit einem gewissen ironischen Unterton. Während hier das „Leben“ der Algorithmen infrage gestellt wird, wird durch die Vermenschlichung gerade ihre Unmenschlichkeit thematisiert, als augen- zwinkernde Antwort auf die Frage, ob das Digitale je ein Ersatz für das analoge, fühlende Wesen aus Fleisch und Blut sein wird. Die einfache Antwort: nein. Die bessere, aus der Feder der Berliner: “Was machen Algorithmen in ihrer Freizeit? Betrügen sie sich? Hassen sie sich selbst, weil sie Sklaven sind?”

Das Album endet vergleichsweise optimistisch: „Regentag“ erzählt zwar auch von grauen Nebel- wänden und kalten Schauern, aber auch vom gemeinsamen Suchen und Finden der Sonne. Snöt erkundet hierbei die oberen Register seiner Bandbreite, und mit Rockdrums, schmachtendem Klavier, und sogar warmen Holzbläsern wird hier mächtig auf die Kitschtube gedrückt – und es ist gerade deshalb so geil, weil „Ich bin für dich da, wenn du traurig bist” meines Wissens nach schon sehr lange nicht mehr so wahnsinnig eloquent in Musik gegossen wurde.

Fazit: Ich möchte hiermit feierlich verkünden, dass ich TÜSN für eine perfekte Band halte. Diese Herrschaften, die mit so viel scheinbarer Leichtigkeit Elemente aus diversesten Genres, von Rock über Chanson bis hin zu Synthpop, Dance etc. so versiert in Popmusik gießen, die auch noch mit grandioser Lyrik voller Wortwitz und Spaß an der doch eigentlich so unmelodiösen deutschen Sprache veredelt wird und so vor Melodie, Volumen, Pathos, aber auch Humor strotzt – diese Herrschaften also müssen mindestens Halbgötter sein. Hat “Trendelburg” mich seinerzeit schon sehr überzeugt, bin ich vollends begeistert von “Am Ende bleibt dir nichts” und dieser durch und durch zelebrierten Tristesse – selten waren Melancholie, Einsamkeit, sich Besaufen und Zudröhnen als Fluchtmechanismus so exzellent in Feelgood-Musik voller Witz und Beat, Energie und Tanzbarkeit verpackt wie hier. Im Grunde hat die Band hier das Lebensgefühl ihrer Herkunftsstadt, Berlin, in Musik gegossen. Irgendwie voll am Puls der Zeit, aber gleichsam unmodern, hier werden auch die sperrigsten Worte („verlustieren“!) zum Schwingen gebracht, von Erotik bis zur Misanthropie wird hier alles mit einem Augenzwinkern geschliffen, bis es nur so funkelt, und das größte Leid und die größte Freude, alles ist egal, denn alles ist vergänglich. Die vier Jahre des Wartens haben sich gelohnt, und auf gerade einmal zehn Tracks wird Emotion, Apathie und Gesellschaftsbeobachtung so dicht verpackt, dass einem nur so die Ohren klingeln. Vor drei Jahren sind TÜSN aus dem Stand zu einer meiner Lieblingsbands geworden, und sie haben mich weder enttäuscht, noch einfach ihre Position verteidigt, sondern sich in der Liste eifrig hochgearbeitet.

Tracklist:

01 Jetzt & für immer
02 741 Millionen
03 Blinde Scheiben
04 Was hast du heute Abend vor
05 Ruinieren wir uns heile
06 Vernavigiert
07 Am Ende bleibt dir nichts
08 Auf Wiedersehen
09 Algorithmen
10 Regentag

Kaufen: Redfield Records Shop

Release: 13.01.2023
Genre: Indie-Synthpop
Label: Redfield Records

“Nichts als die Liebe”-Tour 2023

02.03.2023 München, Backstage
03.03.2023 Wiesbaden, Kreativfabrik
04.03.2023 Köln, Artheater
07.03.2023 Leipzig, Neues Schauspiel
08.03.2023 Dortmund, Junkyard
09.03.2023 Hamburg, Indra
10.03.2023 Hannover, Lux
11.03.2023 Berlin, Frannz

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