Solitary Experiments – Transcendent (CD-Kritik)

Solitary ExperimentsSolitary Experiments stehen seit über 20 Jahren für breiten, eingängigen Elektro-Sound, satten Klang und schöne Melodien. Mit “Transcendent“ erscheint dieser Tage ein weiterer Beweis der eigenen musikalischen Kraft – und es wird, wie wir es kennen und lieben, melodiös, düster und schön.

So ist „Wonderland“ direkt ein wundervoll breiter Track, dicht und vollmundig, die Melodie hat Mitsingfaktor und trägt gleichzeitig eine gewisse, unverkennbare Schwere in sich. Der Text zieht gleichzeitig Parallelen zu dem berühmten Kinderbuch von Lewis Carroll: „Like Alice in Wonderland, we’re digging holes in the sand, and trying to understand the mystery of everything.“ Sehr schönes Ding! „Heart Of Stone“ ist in seinem Drive etwas stakkatohafter veranlagt, kommt eine Idee düsterer daher und kombiniert dezent verzerrte Vocals seitens Dennis mit einigen herrlich-epischen weiblichen Echo-Einschüben, die diesen Track über sich herauswachsen lassen. Zwischendurch hat das Songwriting fast etwas Martin Gore-haftes, gerade diese Refrainmelodie wäre etwas, das in den letzten Jahren auch aus der Feder des Großmeisters aus Großbritannien hätte kommen können.

Auch „Every Now And Then“ hat einen schönen Oldschool-Flair, seien es die zwischendurch mal durchblitzenden Horn-Synths im Hintergrund oder der leise Hauch von EBM, der sich durch den Song zieht. Und natürlich geht auch diese zuckersüße Nummer geflissentlich ins Ohr und kommt natürlich auch um das traditionelle Future Pop-Glissando nicht herum. „Head Over Heels“ hat einen gehörigen Drive mit knalligen Drums, die den Kopf zum Nicken animieren. Hier jedoch ist der Refrain nicht die zu erhoffende melodiöse Explosion, sondern scheint recht eng mit der Melodie der Strophe verwandt zu sein – dafür kommt die Bridge sehr schön daher, und auch der Text hat wirklich spannende Ansätze. „Head Over Heels“ – Hals über Kopf – heißt dieser Song, und stellt seinem Adressaten Fragen wie „Will you catch me when I fall?“ oder „Can you save me from it all?“ Hals über Kopf kann man fallen, oder sich verlieben, und auf Englisch heißt, sich zu verlieren: „falling in love“. Die Schönheit dieser kleinen Emotion bekommt hier eine verunsicherte Dimension, die auch durch die offenen Fragen zum Ausdruck kommt.

„Zeitgeist“, eine partiell deutsche Nummer, stellt einen ziemlichen Kontrast da – das Intro-Riff erinnert an aggressive Industrial-Musik („Du riechst so gut“ lässt grüßen), und die geshouteten Vocals der Strophe haben leichte Aggrotech-Anleihen. Der gediegenere Refrain bedient sich, wie der Titel schon vermuten lässt, einiger sozialkritischer Töne, auch wenn es doch weitestgehend so unkonkret bleibt, dass alle dem etwas abgewinnen können sollten: „Willkommen in unserer Welt, ein Mensch der zusammenfällt; wir kaufen alles für Geld und nehmen was uns gefällt“. Eine kontrastreiche Nummer zwischen Wut und dem Klang immer fortlaufender Mechanismen. „Disci- pline“ kommt mit einem vergleichbaren Zorn daher, während die Synths hier weiterhin einen opulenten Klangteppich weben, in dem es keine undichte Stelle gibt – eines der Hauptmerkmale der Musik von Solitary Experiments: diese Arrangements sind voll und üppig. Die Vocals, wiederum eher gemahnend an Bands wie Agonoize oder auch Terminal Choice, büßen in ihrer Kom- mandoartigkeit ein wenig ihre Melodiösität ein, das gleichen Solitary allerdings sogleich mit einem schönen Ohrwurmrefrain aus.

Der Titeltrack „Transcendent“, eine atmosphärische Instrumentalnummer, bahnt sich wiederum etwas poppiger an, der Rhythmus und die Instrumentierung sind anfangs vergleichsweise zurückge- nommen, um sich im Verlaufe immer weiter aufzubauen und ein hochgradig bildreiches und schönes Stück Musik zu formieren. Hier kann man sich ein wenig am Film im Kopf erfreuen und die Gedanken schweifen lassen, bevor „The Great Unknown“ wieder zum Tanzen einlädt. Während das Instrumental beharrlich brodelt und die Synthies nur so flirren und knarzen, haben die Vocals fast etwas von einem Gebetsgesang aus ferner Region. Dafür verantwortlich ist die wunderbare Elena Alice Fossi von Kirlian Camera, die hier eine fast schon mit Ulrike Goldmann vergleichbare Per- formance abliefert und fabelhaft mit dem Solitary-Sound harmoniert, der auch hier wieder nur so trieft vor Tanzbarkeit und Fläche.

„End Of Story“ ist vergleichsweise eine etwas banalere Nummer mit einigen Motivationsplattitüden („Get your hand out of the sand“; „The world’s still turning“, „Count the moments, not the time“), die jedoch natürlich trotzdem ausgezeichnet klingt, wenn er auch nicht so mitreißend klingt wie viele der anderen hervorragenden Songs auf dieser Platte. Wirklich Groove oder Power kommen hier nicht auf, außerdem gerät dieses Stück etwas repetitiv – für eine Nummer, deren Vorhaben es ist, den Hörer an der Hand zu nehmen, gibt es hier leider wenig, woran man sich wirklich festhalten kann. Da kann „Self-Fulfilling Prophecy“ schon mal mit mehr Energie auftrumpfen. Schön düster und drum- lastig, fies und eingängig wird hier definitiv geklotzt und nicht gekleckert. Der Refrain taugt einmal mehr absolut zum Mitsingen, und so gelingt es Solitary Experiments, Selbstzweifel bzw. -hass in einen Song zu übersetzen, der trotz seines Themas nicht sperrig, sondern feierbar gerät.

Mit „In Agony“ endet “Transcendent“ wiederum hochgradig stimmungsvoll und finster. Dieser Song hat eine fast schon bedrohliche Qualität, mit den unaufhörlich rödelnden Bass-Synths und Zeilen wie „My mind’s so numb, my heart’s so weak“ gerät eine sehr atmosphärische, langsam sich anschleichende Nummer, die zwar die Breite und Fülle anderer Songs nicht aufrechterhält, aber angemessen unheimlich und für einen Rausschmeißer untypisch unfeierlich ist. Ein spannender Endpunkt für dieses neue Werk der Frankfurter.

Fazit: Solitary Experiments sind Meister ihres Fachs, da gibt es keine zwei Meinungen. “Trans- cendent“ vereint die musikalische Dichte mit teilweise wunderbaren Melodien, ist gleichzeitig am Puls der Zeit des Future Pops und hat dennoch so manche Reminiszenz an frühere Synthpop-Tage. Wenn auch lyrisch hier das eine oder andere nicht ganz so innovativ gelingt, so ergibt sich dennoch ein stimmungsvolles Gesamtbild aus mitreißender Konzertpartyhaftigkeit, hintergründiger Düsternis und einer immer wieder durchstechenden Melancholie. Besonders hervorzuheben sind „Wonder- land“, „Discipline“ und das fabelhafte Duett mit Elena Alice Fossi, „The Great Unknown“.

Tracklist:

01 Wonderland
02 Heart Of Stone
03 Every Now And Then
04 Head Over Heels
05 Zeitgeist
06 Discipline
07 Transcendent
08 The Great Unknown feat. Elena Alice Fossi
09 End Of Story
10 Self-Fulfilling Prophecy
11 In Agony

Kaufen: Amazon

VÖ: 28.10.2022
Genre: Electro
Label: Out Of Line

Solitary Experiments im Web:

Homepage

Facebook