Rammstein – Zeit (MCD-Kritik)

Rammstein2004 sang Till Lindemann auf der düsteren Erlkönig-Interpolation „Dalai Lama“ noch „Wir müssen leben, bis wir sterben“. Das war vor 18 Jahren. Jetzt schreiben wir das Jahr 2022, und während wir die Corona-Krise noch nicht ganz überwunden haben und mit dem Krieg in der Ukraine schon das nächste Unheil über unsere Köpfe hereinbricht, heißt es: „Wir sterben weiter, bis wir leben, sterben lebend in den Tod“. Rammstein sind zurück, drei Jahre nach ihrem unbetitelten Werk, das sämtliche Rekorde gebrochen hat und den erfolgreichsten Album-Start des Jahrtausends hinlegte. “Zeit” erscheint am 29. April 2022, die gleichnamige Single ist ab sofort überall zu hören.

Erstaunlich ruhig kommt es einem bei oberflächlicher Betrachtung vor, was sich um diese Single abspielte. 2019, rund um den Release der Single „Deutschland“, hatte es mächtig Lärm gegeben. Ein Teaser-Clip, der die Band als KZ-Insassen zeigte, geriet ins Visier derer, die ständig nach dem nächsten Aufreger suchen, viel wurde schon Monate davor gemunkelt um das Comeback-Album einer Band, die fast ein Jahrzehnt lang nichts veröffentlicht hatte. Als Song und Video schließlich auf die Welt knallten, versetzten sie ein Millionenpublikum in Staunen. Der Song stellte sich nicht nur als monumentaler Brecher dar, sondern war insbesondere in Kombination mit dem epochalen Musikvideo aus der Hand des Berliner Regisseurs Specter eine Abrechnung mit der deutschen Geschichte, ihrer Deutung, vor allem aber ihrer Relativierung.

„Zeit“ hingegen ist ein gänzlich anderes Biest. Nicht einmal ganz achtundvierzig Stunden vor Veröffentlichung aus dem Nichts angekündigt, ohne vorher von der Band gestreute Hinweise wie noch drei Jahre zuvor, fiel die Veröffentlichung dieser neuen Single nahezu förmlich aus. Die Fans freuten sich, einige Zeitungen berichteten, der große Lärm blieb allerdings aus, sowohl in der Rezeption, als auch – so scheint es – im Song selbst.

Bei „Zeit“ handelt es sich um eine Power-Ballade unter ähnlichen Vorzeichen wie „Ohne dich“ oder „Mutter“. Eines jedoch bleibt nicht aus: das Lied wirkt neben seinen genannten Kollegen reifer, polierter, und nahezu sophisticated. Zwischen seichten, wabernden Piano- klängen und Powerchords im Refrain baut der Song sich nach und nach auf, der Text spricht in mystischen Andeutungen („Nach uns wird es vorher geben, aus der Jugend wird schon Not“) von der Brutalität der Vergänglichkeit: „Zeit, bitte bleib stehn, bleib stehn!“ Eher schwermütig als sehnsüchtig, doch kraftvoll trotz allem. Und typisch Rammstein: himmel- hoch jauchzend („Es ist so schön, so schön“), zu Tode betrübt („Doch die Zeit kennt kein Erbarmen, schon ist der Moment vorbei“).

Raum für Spekulationen gibt es derweil reichlich: Deuten Zeilen wie „Wenn unsre Zeit gekommen ist, dann ist es Zeit zu gehen – aufhörn, wenn’s am Schönsten ist“ auf das Ende der Band Rammstein hin? Das wäre nahezu das Unheilig-Level an plakativem Pathos (ganz abgesehen davon, dass dieser Abgang mit Ansage sich leider bis heute selbst regelmäßig selbst Lügen straft). In Wirklichkeit handelt dieser Song nämlich von dem romantischen Sehnen nach der Ewigkeit des Moments. Wie schön ist doch alles jetzt gerade, wir zwei, hier, der Sternenhimmel, die Luft, unsere Jugend, unsere Liebe, ach! Das ist ein in der Popmusik zwar dutzendfach durchgekautes Motiv, doch das Leiden, das aus Musik und Text spricht, sorgt für den angemessenen Twist: Rammstein waren vielleicht noch sie so melancholisch wie auf diesem Song. Die Hoffnungslosigkeit, die Machtlosigkeit angesichts der Schnelllebig- keit, der so kurz anhaltenden Blütezeit vor dem langen Verdorren, vor allem aber die Unumkehrbarkeit schlagen sich hier nieder. Wie Till Lindemann es selbst vor 25 Jahren formulierte: „Das muss halt irgendwie scheiße sein und… qualvoll und schmerzvoll.“

Das Musikvideo, für das sich diesmal Käptn Peng verantwortlich zeigt, spielt mit eben- diesen Themen: große Figuren stellen hierbei die Zeit da, die die Menschen in Sandfluten dahinrafft. Ob es die Geliebte ist, oder frisch geborene Babys. Wir sehen rückwärts abgespielte Kriegsszenen und Geburten (Achtung: explizit!), doch all das Wünschen nach der Umkehrbarkeit wird von der Zeit ignoriert. Der Sand legt sich am Ende über alles. Es gibt kein Entkommen.

Fazit: Es nützt nichts, es zu ignorieren: Die Rammstein-Jungs sind schon lange keine Jungs mehr, sie sind alternde Männer, die – manche mehr, manche weniger – geradewegs auf die 60 zugehen. Das findet sich in „Zeit“ wieder. Einerseits im Text, vor allem aber in der Gewachsenheit der Musik. Die Zeiten, in denen man sich auf der Bühne mit Neonröhren verkloppte oder mit Umschnalldildos auf seine Bandkollegen losging, sind vorbei – und es ist gut und richtig, dass nicht krampfhaft versucht wird, daran festzuhalten (so sehr Lindemann es auch mit seinen Solo-Ausflügen zu probieren scheint). Der wilden Haudruffmusik und der brachialen Hypermaskulinität der Vergangenheit werden hier bittere Erkenntnis und Schwere entgegengesetzt. „Zeit“ ist demnach ein erwachsenes Stück Rockmusik, zwar weniger monumental als „Deutschland“, doch trotzdem opulent und stark.

Tracklist:

01 Zeit
02 Zeit (RMX by Ólafur Arnalds)
03 Zeit (RMX by Robot Koch)

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VÖ: 10.03.2022
Genre: Neue Deutsche Härte
Label: Rammstein/Universal

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