Die Welt geht vor die Hunde. Das ist zwar ein Satz, der schon immer gestimmt hat, doch in den letzten paar Jahren hat sich die Verdorbenheit der Dinge wohl noch einmal gehörig potenziert. Wo Krieg und Seuche herrschen und das friedliche, besonnene Miteinander stirbt, fehlt ein klarer Wegweiser, ein Rettungsanker, eine Möglichkeit des Eskapismus. Da, denkt man, könnten Rammstein doch durchaus gelegen kommen – doch im Gegenteil: Mit „Zeit“ veröffentlichen die sechs Altmeister eine Abrechnung mit der Gegenwart in elf Kapiteln, und statt uns abzulenken, reiben sie uns den Schleim und die Schmach des Hier und Jetzt noch ins Gesicht, um uns danach eine Ohrfeige zu verpassen.
Gebeutelt durch die Corona-Pandemie und, wie die meisten von uns, gestrandet auf einer Insel der erzwungenen Tatenlosigkeit, haben sich die Berliner 2020 entschlossen, ein neues Album aufzunehmen. Im Studio La Fabrique, in dem auch das letzte, unbetitelte Rammstein-Album aus dem Jahr 2019 entstand, werkelte der erfolgreichste deutsche Kulturexport an Scheibe Nummer acht. Und situationsangemessen gerät besagte Scheibe streckenweise zynisch, wahnsinnig, und gar deprimiert.
So ist schon der Opener „Armee der Tristen“ eine Aufforderung, sich einzureihen in den Feldzug der erbärmlichen Gestalten. „Wir woll’n zusammen traurig sein – Komm mit, reih dich ein!“ Getragen von grandioser Synth-Arbeit, die nicht zu Unrecht bereits mit Depeche Mode verglichen wurde, handelt dieser Song von einer Akzeptanz der Negativität, bietet gleichzeitig die altbekannten Bezüge zu den militaristischeren Elementen der Musik der Band, wenn auch mit dem Twist, dass hier nicht die Stärke, sondern die Schwäche zelebriert wird. Der Song bietet eine Einleitung in das Hinabsteigen in eine finstere, hoffnungslose Welt.
„Zeit“, der Titeltrack der Scheibe, über welchen ich schon an anderer Stelle ausführlich geschrieben habe, führt das Thema Hoffnungslosigkeit fort. Zudem beginnt hier etwas, das sich durch das gesamte Album ziehen wird: das Selbstzitat. „Wir sterben weiter, bis wir leben“ erinnert an die Zeile „Wir müssen leben, bis wir sterben“ aus dem 2004 erschienenen Song „Dalai Lama“. Diese Rückbezüge, die sich im Laufe des Albums immer wieder finden, eröffnen die Interpretationsmöglichkeit, dass dieses Album ein stetiger Versuch ist, der schrecklichen Gegenwart zu entfliehen, mit all ihren Konflikten und Problematiken, eine Sehnsucht nach den glücklichen, unbeschwerten Momenten der Vergangenheit („Zeit, bitte bleib stehn, bleib stehn“). Doch nicht zuletzt dieser Song, der auch die erste Singleaus- kopplung war, zeigt die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes auf – dem Älterwerden ist nicht zu entkommen, wir können uns den Krisen nicht entziehen. Musikalisch erinnert der Song „Zeit“ in seinem Bombast an „Ohne dich“, wo sich Piano, hintergründiges Drumming und fast mechanisch stampfende Drums in einem Crescendo immer weiter gegenseitig in die Höhe schrauben, spielt jedoch an der lyrischen Front viel mehr mit Uneindeutigkeiten und Paradoxien.
Auch „Schwarz“, der folgende Song, ist im Kern eher ruhig und balladesk veranlagt und beschließt damit das eher dem Pathos und der Tragik zugewandte Opener-Trio von „Zeit“. „Geh ich vor der Nacht zur Ruh, deck ich mich mit Schwermut zu“, haucht Till Lindemann hier über eine wunderschöne Piano-Melodie, um im Refrain wieder eine Rückbesinnung auf einen älteren Song zu liefern: „Immer wenn ich einsam bin, zieht es mich zum Dunkel hin“ ist nahezu ein Kontrast der Zeile „Immer wenn ich einsam bin, zieht es mich zum Feuer hin“ aus dem Song „Hilf mir“ des Albums „Rosenrot“. Das musikalisch sowie textlich vermittelte Bild der Zuneigung zur Dunkelheit ist eine positivere Betrachtung der Finsternis, die bisher auf diesem Album thematisiert wurde, und hat zuweilen etwas fast Kindliches: „Die Nacht ist wunderschön / Ich will nicht schlafen gehen“ – gepaart mit einer infantilen Neugier auf das gefährlich Anmutende: „Trinker, Huren und Verschwörer sind den Schatten zugehörig“. Wie schon der Opener wird hier das Kaputte, das Gebrochene als Perspektive aufgezeigt, und der Eskapismus in die Selbstzerstörung wird fast zu einem Sehnsuchtsort. Hier kommen schönste Klaviermelodien mit Orchesterklängen und wuchtigen Flächengitarren zu einer ausgesprochen ergreifenden Nummer zusammen, die allen Menschen, die sich in der Düsternis gefangen sehen, ihre Hand ausstreckt. Einzig und allein das Outro gerät ziemlich plötzlich – eine Eigenheit, die sich auch schon auf „Armee der Tristen“ zeigte. Während „Zeit“ mit einem ausgefeilten Outro ausklang, das sich auf die Gesänge im Intro des Liedes bezog, enden diese beiden Songs einfach so, und gefühlt mittendrin. Insbesondere bei Songs solcher emotionaler Stärke wäre es schön gewesen, wenn es musikalisch einen Ausklang gegeben hätte, der der Intensität und Schönheit noch ein wenig Raum verschafft, stehen gelassen und verdaut werden zu können.
Doch Rammstein fackeln nicht allzu lang – nachdem insbesondere „Schwarz“ nahezu mitten im Satz vorbei ist, brettert „Giftig“ los, mit einem Intro, das sich mit seinem Vocal Sample auf den Song „Sehnsucht“ bezieht. Schmetternde Gitarren, schnelle Rhythmik, ein Klopper vor dem Herrn, der sich hoffentlich auch auf den Setlists der kommenden Stadion-Tour wiederfinden wird. Lindemann kotzt seine Vocals nahezu über dieses fette Instrumental, das nur so zum Headbangen einlädt, und singt über toxische Liebe: „Doch gut getarnt liegt die Gefahr gleich neben mir, bedrohlich nah: Du bist giftig, ach so giftig“. Das lässt sich nicht nur famos mitbrüllen, denn im C-Teil wird das lyrische Ich nach und nach von dem beschriebenen Toxikum eingenommen und verfällt ihm: „Und das Gift strömt langsam in mein Blut (…) und irgendwie find‘ ich es gut“. Verdeutlicht wird die Wirkung dieses Gifts durch ein bisher völlig unbekanntes Werkzeug im Rammstein-Universum: Autotune. Was sonst gedacht ist, um missratene Töne wieder auf Linie zu bringen, wird hier und auch an späterer Stelle im Album in seiner Künstlichkeit völlig offengelegt und zur Verdeutlichung des Verfalls des lyrischen Ichs genutzt. Mit jeder Zeile dieses Vierzeilers, der die dritte Strophe bildet, wird der Einsatz des Autotunes wahnwitziger, Tills Stimme verkommt zu einem unnatürlichen, herumspringenden Geflacker, und die Wirkung des Gifts wird durch diesen Kunstgriff hervorragend zum Ausdruck gebracht.
„Zick Zack“, die zweite Single aus „Zeit“, behält den Kurs von „Giftig“ bei: Klassisches Rammstein-Material – nur diesmal bedeutend weniger dreckig und laut, auch etwas weniger melodiös. Ich habe auf dieser Seite schon eine umfangreiche Review zu diesem Song verfasst, der sich mit Schönheitswahn und Selbstoptimierung bis zur Unkenntlichkeit auseinandersetzt und dabei zwar durchaus Freude bereitet, allerdings doch sowohl musikalisch als auch inhaltlich sehr an der Oberfläche bleibt. Das Ergebnis ist ein guter, jedoch etwas zu typischer Song, der zwar mit einem guten Beat, schönen Kraftwerk-Synthies und einigen amüsanten Zeilen aufwarten kann, jedoch bei weitem nicht so effektvoll ist wie die anderen Songs dieses Albums, sondern eher wie ein Durchschnitt des Rammstein-Soundkosmos wirkt.
Da bietet „OK“ doch wiederum etwas mehr Überraschungspotenzial. Als ich der Premiere dieses Albums in einem Berliner Kino in Dolby Atmos-Sound beiwohnte, erzielte dieser Song vor allem eines: Lacher. Denn dass „OK“ für „Ohne Kondom“ steht, ist einerseits angesichts Songs wie „Pussy“ oder dem Lindemann’schen Solo-Gebaren (insbesondere dem entsetzlichen „TILL The End“) wahnsinnig erwartbar, andererseits wieder so bescheuert, dass es einfach Spaß macht. Es singt derselbe Chor, der uns einst das bedeutungsschwanger klingende Intro des Songs „Zeig dich“ präsentierte, mit ähnlich viel Verve diesmal eben die Zeilen „Ohne Kondom“ vor, und völlig konträr zu der wahnsinnig banalen Ausrichtung des Texts geht das Ding musikalisch ab wie nichts zweites. Ähnlich wie bei „Sex“ auf dem Vorgängeralbum weist „OK“ augenzwinkernde Lyrics mit großartiger Gitarrenarbeit vor, der Song erlaubt sich sogar einen nahezu Doom-metalligen Breakdown und ist ansonsten einfach nur ein grandioses Stück Rock’n’Roll, das garniert mit Lindemann-Stilblüten wie „In deiner Haut will ich gern stecken, was sich liebt, das darf sich lecken“ dafür sorgt, dass ich lache – wenn auch, vielleicht, unter meinem Niveau. Als bekennender Fan des Songs „Sex“ vom unbetitelten Album erreicht mich dieser Song auf eine gewisse Weise, und ich sehe mich schon angesoffen im Olympiastadion dazu rumpogen.
Nüchtern betrachtet allerdings fallen auch hier gewisse Brüche auf, so hat die vorgegebene Kopflosigkeit („Sehr viel Sinn ohne Verstand“) auch eine zweite Ebene („Du hast mich in der Hand“). Da gibt es nämlich die Zeilen „Du führst mich hinter rotes Licht, bitte lass mich sehr im Stich“, die von einer gewissen Täuschung und Enttäuschung sprechen – der Sex ist hier kein Akt der Liebe, sondern soll möglichst animalisch und wild ausfallen, Emotionen spielen keine Rolle, ja, man akzeptiert sogar, dass es sich bei dem Sex nur um eine Täuschung handelt: Die Liebe ist nicht echt, die Körperlichkeit nur ein Substitut. Der fehlende Verstand ist vielleicht gerade der Punkt – und auch, wenn es Sinn geben mag, die Sinnlichkeit selbst ist nirgends zu finden. In Zeiten von schnellen Nummern via Internet-Dating eröffnet diese Perspektive durchaus Möglichkeiten der Interpretation.
Mit „Meine Tränen“ folgt ein Storyteller-Song, wie sie im Rammstein-Repertoire mittlerweile gang und gäbe sind. Dessen ist sich der Song auch bewusst – ganz offen zitiert er im Intro den Song „Puppe“, der diese Storyteller-Funktion auf dem Vorgängeralbum innehatte, das Riff im Refrain hingegen erinnert, passend zum Thema des Songs, an „Mutter“. Der Song handelt von der Beziehung zwischen dem devianten Sohn und seiner herrscherischen, kalten Mutter, die den Sohnemann „oft auf ihren Schoß“ zwingt. Gleichsam ist der Song ein Kommentar auf toxische Männlichkeit – der Sohn leidet unter seiner Mutter, die ihm keine Liebe oder Emotionen beibringt, sondern ihm mit Härte begegnet, und ihm verbietet, sein Leiden zu zeigen: „Ein Mann weint nur, wenn seine Mutter stirbt.“ So wirkt dieser Song fast wie ein Prequel zu „OK“, ist das hier geprägte Bild von Emotionsunterdrückung und dem ungesunden Verhältnis und „Aushalten“ von Sexualität ohne wirklichen Genuss auch im vorherigen Lied spürbar. Gleichzeitig gibt es in mir irgendeine Hürde gegen diesen Song, die mir den wirklichen Genuss des an sich sehr gelungenen Instrumentals etwas zermürbt. Der Refrain ist ein bisschen überbeladen, sodass er nicht nur pathetisch gerät, was ja gar kein Problem sein muss, sondern vor allem dazu führt, dass sich die Rhythmik irgendwann im Weg steht. „Ein Mann weint nur, wenn seine Mutter stirbt / Der Tod ist stark, das Herz ist schwach / Wenn das eigen Fleisch und Blut verdirbt / Der Klügere gibt nach“ ist doch sehr viel Text auf wenig Raum für so einen Refrain und blockiert die Möglichkeit einer wirklichen Eingängigkeit.
Wie gut, dass „Angst“ diese Gräben sofort wieder kittet – mit dem bisher härtesten Riff des Albums kommt der offensiv politischste Song auf dieser Platte mit Zeilen daher wie: „Und so glauben wir bis heute / Schwer bewaffnet ist die Meute“ – Erzählt wird von der Angst vorm „Schwarzen Mann“, und der daraus folgenden kollektiven Furcht vor dem Fremden, dem Bösen, resultierend in der kompletten Verriegelung und Bewaffnung im Kampf gegen die unbekannte Bedrohung, die im Kern doch nichts ist als ein Kinderreim. So kann die Angst vorm Schwarzen Mann hier ziemlich wörtlich als Kommentar auf Fremdenfeindlichkeit gesehen werden, doch kann der Schwarze Mann als Figur aus einem Kinderreim auch für andere diffuse Bedrohungen stehen, über die die Gesellschaft in Panik gerät und in eine infantile Gut-Böse-Dichotomie verfällt. Das alles wird mit einigem Zynismus, der sich insbesondere im genialen Musikvideo überträgt, dargeboten, gleichzeitig strotzt dieser Song nur so vor Härte und wartet mit einigen großartigen Vocal Performances auf – gerade im C-Teil growlt Lindemann nur so vor sich hin und zeigt, wie er trotz seiner fast sechzig Lenzen als Vokalist nicht schwächer, sondern reifer geworden ist.
Völliger Gegenpol zu der bitterernsten Stimmung auf „Angst“ ist der Song „Dicke Titten“, vollständig nur mit Oktoberfest-Blasmusik-Intro und Helene-Fischer-Bridge – eine völlig ironische Nummer, die in ihrer Ironie doch fast schon wieder etwas Kommentatorisches hat. Ein hoffnungsloser alter Sack, der sich in der Ödnis seines Daseins nichts anderes wünscht als eine Frau, bei der völlig egal ist, ob sie charakterlich überhaupt passt: „Sie muss nicht schön sein, sie muss nicht klug sein, nein, sie muss nicht reich sein, kein Modell mit langen Schritten – doch dicken Titten“. Unter anderem die FAZ bezeichnete dies treffend als „Traumvorstellung eines einsam alternden Wichsers“, das lyrische Ich ist eine bemitleidens- wert lächerliche, frustrierte Gestalt, die das eigene Alter und die nachlassende Manneskraft zu kompensieren versucht, indem es sich eine junge Frau herbeisehnt, die für ihn natürlich nicht eine liebende und geliebte Partnerin sein soll, sondern einzig und allein ein Lustobjekt darstellt. Die Selbstdarstellung als verkommener, oller Mann ist hierbei so offensichtlich, dass der Humor glasklar ist: Männer, die so denken, werden hier voll und ganz der Lächerlichkeit preisgegeben. Dazwischen darf in gebotener Ausführlichkeit geheadbangt werden, denn wie viele der eher albernen Rammstein-Songs ist auch dieser hier eine absolut groovende Nummer. Das Riff zitiert den Song „Rammstein“ des Debütalbums, es schmettert nur so vor sich hin, gemeinsam mit der Blaskapelle wird hier Songs wie „Pussy“ ordentlich Konkurrenz entgegengesetzt. Wie schon „OK“ herrlicher Quatsch. Das haben Rammstein in der Vergangenheit schon bedeutend schlechter gemacht („Rein Raus“).
Experimenteller gerät „Lügen“, ein Song, der in der ersten Strophe nur von einer spärlich gezupften Akustikgitarre und einigen träumerischen Synthies begleitet wird, bevor eine Seemann-eske Wall Of Sound einbricht, die den Refrain verkörpert. Über weite Strecken ist dieser Song mehr ein Rant, die Selbstdarstellung eines Mannes als Romantiker: „Barfuß am Strand langgehen, in den Abendhimmel sehen (…) Ich fluche niemals, bin sehr treu“ – nur, um das im Refrain wieder zu konterkarieren: „Lügen, alles Lügen! Ich belüge sogar mich, keiner glaubt mir, niemand traut mir, nicht mal ich“ – Wieder geht es um einen erstaunlich erbärmlichen Mann im modernen Zeitalter, in dem es so leicht wie nie zuvor ist, über sich selbst zu lügen. In seine Tinder-Beschreibung kann man ja alles Mögliche reinschreiben. Auch hier kommt wieder Autotune zum Einsatz – hier zur Verdeutlichung sowohl der Unehrlichkeit, als auch des ausbrechenden Wahnsinns des Protagonisten, der sich so in seiner notorischen Unehrlichkeit verliert, dass er sich sogar selbst nicht mehr glaubt. Diese dritte Strophe, inklusive des Autotune-Einsatzes, wird auch schnell zum Highlight des Songs, da es der interessanteste Umgang mit dem Konzept des Lügens ist – ansonsten hat dieser Song gewisse Parallelen zur Heldmaschine-Nummer „Gottverdammter Mensch“: größtenteils gesprochene Strophen auf ein wenig spannendes Instrumental mit sehr pathetischem Refrain. Insgesamt fühlt sich das alles jedoch zu wenig nach einem tatsächlichen Lied an, um wirklich zu zünden, eine wirkliche Melodie fehlt weitestgehend, niemand wird jemals einen Ohrwurm von etwas haben, was nicht die Autotune-Passage ist, das Ganze steht doch recht klobig im Raum.
Mit „Adieu“ holen Rammstein zum letzten Schlag aus – zumindest auf diesem Album, aber vielleicht auch, der Titel lässt munkeln, für immer? Erstmal zum Musikalischen: Statt einer weiteren Ballade kommt hier ein sehr ordentlicher Midtempo-Rammstein-Song mit angenehm bluesigem Riff daher, das Erinnerungen an Marilyn Mansons „Threats Of Romance“ erweckt (wiederum der letzte Song des dazugehörigen Albums), dazwischen gibt es mystische Piano-Klänge, und rein instrumental betrachtet hört sich dieser Song eher weniger nach einem tränenreichen Abschied an. Das ist auch gut so. Stattdessen handelt dieser Song nämlich vom Umgang mit dem Tod. Zeilen wie „Adieu, goodbye, auf Wiedersehen – die Zeit mit dir war schön“ lassen zwar Übles vermuten, ich hingegen bin jedoch sehr froh über diesen eingestreuten Bezug auf den Albumtitel, und verweise gleichsam auf andere Zeilen: „Den letzten Weg musst du alleine gehen“, aber auch „Aus dem Leben steigst du leise“ – hier geht es nicht um ein eigenes Ende, stattdessen ist dieser Song eine Reaktion auf den Tod eines Geliebten. Nicht nur das, er stellt auch die Akzeptanz dieses Endes da – „Sogar die Sonne wird verglühen“, „Kein Wunder wird geschehen“: Die Tragik des Verlusts wird hier in ihrer Unausweichlichkeit dargestellt. Wir alle sterben, man kann nichts dagegen tun, es ist ganz natürlich, wozu Angst davor haben?
Das sind die Oberthemen dieses Liedes, die sich in dem coolen, abgeklärten Riff und der eigentlich doch eher positiven Grundstimmung des Songs durchaus tragen. So halte ich dieses Lied nicht per sé für den Abschiedssong von Rammstein, sondern eher für ein Gegenstück zum Titeltrack. Sollten mit diesem Lied allerdings wirklich die Rammstein’schen Kraftwerke ihre Maschinen ruhen lassen, wäre dies ein durchaus gelungener Abschluss, mit positiven, ermutigenden Untertönen und der Aufforderung, nach vorn zu schauen. So endet das Album mit einer Nummer, die sehr schön fließt und groovt, sich nicht im Sumpf des allzu typischen Sounds der Band suhlt und trotzdem so unverkennbar Rammstein ist.
Fazit: Rammstein schaffen mit „Zeit“ ein Album, das einerseits am Puls der Zeit und andererseits aus der Zeit gefallen klingt – womit der Albumtitel mehr als gerechtfertigt wäre. Hier geht es einerseits um die Gegenwart mit all ihren Abscheulichkeiten und andererseits um die eigene Historie. Musikalisch sowie textlich wird hier immer wieder auf das bisher Geschaffene verwiesen, während gleichsam der Blick aufs Hier und Jetzt gerichtet ist. Dabei werden sich auch immer wieder Experimente erlaubt – das Einbinden einer Blaskapelle oder der Einsatz von Autotune – ohne jedoch allzu stark von der „Corporate Identity“ abzurücken. So dient dieses Album als Bindeglied zwischen den früheren Jahren der Band sowie der Gegenwart. Irgendwo zwischen „Sehnsucht“, „Mutter“ und dem unbetitelten 2019-Album liefern Rammstein uns Material, das auf jeden Fall nahezu durchgängig große Freude bereitet, wenn auch hier und da das Songwriting insbesondere im Vergleich zur Vorgängerplatte schwächelt („Meine Tränen“, „Lügen“, „Zick Zack“) und der eine oder andere Song durchaus noch etwas hätte poliert werden dürfen (die nicht vorhandenen Outros auf „Schwarz“ und „Armee der Tristen“).
Lobend hervorzuheben ist hingegen, dass Rammstein an vielen Stellen dieses Albums teilweise mindestens an ihre besten Momente heranreichen, wenn nicht gar darüber hinausgehen. Schon die drei ersten Songs sind großartige Nummern, mit „Zeit“ und „Armee der Tristen“ finden sich gleich zwei Anwärter auf manche Top-10-Listen der gesamten Rammstein-Diskographie, „Giftig“ klingt wie ein Song aus dem Jahr 1997 und dabei besser als so mancher „Sehnsucht“-Track, „Angst“ hat inhaltlich gewisse Parallelen zu „Deutschland“, und „Adieu“ ist der beste Closer für ein Rammstein-Album seit 17 Jahren. So ist „Zeit“ ein ausgesprochen respektables Spätwerk.
Tracklist:
01 Armee der Tristen
02 Zeit
03 Schwarz
04 Giftig
05 Zick Zack
06 OK
07 Meine Tränen
08 Angst
09 Dicke Titten
10 Lügen
11 Adieu
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VÖ: 29.04.2022
Genre: Neue Deutsche Härte
Label: Universal/Vertigo
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