Das Publikum im Konzertsaal der Berliner Universität der Künste ist wie üblich größtenteils in schwarz gekleidet, doch selten hat man hier wohl so viele Nicht-Anzugträger gesehen. Stattdessen dominieren Motive wie „Supergestört und superversaut“. Was ist da los? Die Antwort kommt in Form eines siebzig Jahre alten Mannes im schwarzen Gehrock auf die Bühne, ein weißer Rauschebart ziert sein Antlitz. Er ist der Bergfried der Schwarzen Szene, ein Gigant, der seine Karriere nach einigen unglaublichen Höhen und manchen Ausrutschern zurzeit wieder volle Kanne nach vorne treibt: Joachim Witt hat innerhalb der letzten Jahre ein beispielloses Comeback hingelegt, beginnend mit der Kontroverse um die mögliche Indizierung des Musikvideos zu seinem brillanten Song „Gloria“, da der Clip Missbrauchs- skandale in der Bundeswehr thematisiert, und sich erstreckend zu – aber nicht endend mit – der Veröffentlichung seines Albums „Refugium“, welches zu seinem runden Geburtstag diesen Februar erschien.
Und man kann sagen, was man will: Witt lässt sich nicht lumpen. Letztes Jahr erschien sein fantastisches Studioalbum „Rübezahl“, dessen epischer Sound auch Produzent Chris Harms zu verdanken ist. Ein wunderbarer Anlass, um genau diese Songs, die ohnehin schon mit orchestraler Wucht nach vorne schmettern, nun mit klassischer Begleitung zu präsentieren. Erstmals passierte dies letzten Herbst beim Gothic Meets Klassik – ein Konzert, das so auch auf dem Album „Refugium“ festgehalten ist – darauf folgte die Klassik Art Tour. Die Refugium Klassik Tour spielt dieses Rezept nun zur Höchstform auf: Joachim Witt reist durch die Konzerthäuser und begeistert durch Power und Charme. Dabei präsentiert er nicht nur Songs aus seinem aktuellen Album, sondern lässt auch die eine oder andere Nummer aus „Bayreuth“-Zeiten aufleben. Auch seine NDW-Phase, der erste große Hochpunkt seiner Karriere, wird nicht vernachlässigt, und so wird auch der „Goldene Reiter“ in einen zweiten Frühling geschickt. Von „Das geht tief“ über „Wieder bin ich nicht geflogen“ bis hin zur aktuellen Rübezahl-Ära („Mein Diamant“) bekommen die seit Jahrzehnten treuen Fans alles, was sie wollen.
„Ich weiß gar nicht, was ich hier in der UdK eigentlich mache. Eigentlich ist das, was ich hier mache, ja keine Kunst. Ich weiß auch nicht, wer mich hierher gebucht hat… Unverschämtheit eigentlich. Naja. Aber schön viel Holz hier.“ Ein Witt-Konzert ist eben kein Witt-Konzert ohne die herrlich bescheuerten Monologe des Meisters. Wer Witt jedoch bereits ein paarmal gesehen hat, bemerkt hier bei diesem Berlin-Konzert, dass er sich vergleichsweise kleinlaut präsentiert. Auf den Zwischenruf „Joachim, du bist der Schärfste“ kontert er „Das irritiert mich jetzt ein bisschen.“ Ob Orchester oder nicht, Joachim Witts Shows leben auch immer durch Witts Witz (haha!) und Selbstironie. Doch der Fokus liegt eindeutig auf der Musik. Die Zwischenansagen zeugen heute zumeist vielmehr von Joachim Witts Feingeist anstatt von seinem zutiefst sympathischen Wahnsinn und bewusst selbstparodierenden Gezeter. Man merkt einfach, dass dieser Mann mit ganzem Herzen für sein Werk steht. Und auch das Publikum ist ganz anders drauf, als man es als geneigter Witt-Konzertgänger kennt. Die Atmosphäre ist hochspannend. Ein klassischer Konzertsaal fordert einfach eine völlig andere Disziplin als eine Clubshow. So verstummt das Publikum, sobald die Instrumentalisten auf die Bühne kommen, um ihre Schaffenswerkzeuge zu stimmen. Dieses Anschwellen der Streicher und Bläser reicht bei dem einen oder anderen schon für eine Gänsehaut. Spätestens bei „Ich will leben“ bedeckt diese dann den ganzen Körper. Die Fans dieses Werks bekamen neben der genialen Klassik-Arrangements darüber hinaus noch die gute Nachricht mitgeliefert, dass „Rübezahls Rückkehr“ 2020 bevorstehen wird.
Ein besonderes Highlight des Abends: Mit Adrian Hates hat sich Joachim Witt mehr als nur einen Support-Act mitgebracht. Der Diary Of Dreams-Sänger überwältigt das Publikum mit Songs wie „Hiding Rivers“ oder „Malum“, bis er schließlich – einer der brillantesten Momente des Abends – zusammen mit Witt dessen Welthit „Die Flut“ zum Besten gibt. Absolut fantastisch. Und dann sitzt man da im Publikum und freut sich. Man freut sich, wie gut diese Songs klingen. Man freut sich, dass Joachim Witt nicht nur immer noch da ist, sondern auch immer noch richtig gute Musik macht. Dass er immer noch etwas auf dem Herzen hat, dass seine Songs nach wie vor Tiefgang haben und er auch nach vierzig Jahren keine Angst vor Innovation hat. Wo andere Künstler sich in ihrem Spätwerk entweder selbst wiederholen oder daran scheitern, etwas Interessantes, Neues zu kreieren, will man bei diesem Giganten dieses nach Abschied klingende Wort gar nicht erst in den Mund nehmen. Von einem Spätwerk kann gar nicht die Rede sein, Joachim Witt hat noch lange nicht fertig. Das wissen wir alle, er weiß es auch. Dieser Abend ist nicht nur ein Ritterschlag für sein bisheriges Schaffen, sondern auch ein klares Signal: Es geht weiter. Und ich freue mich auf all das, was dieser Mann noch für uns in petto hat.
Joachim Witt – Refugium Klassik Tour 2019
+ Special Guest: Adrian Hates
01.06.2019 Erfurt, Alte Oper
21.06.2019 Essen, Colloseum
22.06.2019 Offenbach, Capitol
23.06.2019 Hamburg, Friedrich Ebert Halle
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