Emigrate – The Persistence Of Memory (CD-Kritik)

Soloprojekte sind so eine Sache. Entweder entfachen sie einen originären Zauber und eine eigenständige Energie, die zwar auf der Hauptband aufbaut und von ihr profitiert, aber ihr gleichermaßen neue Ebenen hinzufügt. Oder aber sie werden in der Funktion einer Überbrückungshilfe zu neuem Material des Hauptprojekts, das man eigentlich viel sehnlicher erwartet, eher toleriert als wirklich geliebt. Wo steht in diesem Kontext nun Emigrate, die kreative Spielwiese von Richard Kruspe, seines Zeichens Gitarrist bei Rammstein? Einerseits brachte das Projekt bis dato drei sehr ordentliche Alben hervor, die teils großartige und spaßige Songs boten („New York City“, „Eat You Alive“ oder „1234“ zum Beispiel), andererseits läuft das Projekt seit mittlerweile knapp 15 Jahren ein bisschen unter ferner Liefen. Dies mag dem Fakt geschuldet sein, dass es nicht kommerziell ausgelegt ist, andererseits sorgt das auch für das Gefühl, dass Emigrate immer irgendwie unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Während das beim letzten Album durch ambitionierte künstlerische Ideen weniger auffiel, ist das neue Emigrate-Album “The Persistence Of Memory” ein etwas schwierigerer Fall. Konnte der Vorgänger “A Million Degrees” nebst der tollen Singles noch mit der wahn- witzigen Entstehungsgeschichte samt Überflutungskatastrophe im Hause Kruspe dienen, haftet diesem neuen Werk ein gewisser Resterampen-Beigeschmack an. “Richard tauchte in seine Festplatten und hörte Ideen, Songs, Lyrics, die unbedingt an die Öffentlichkeit wollten”, heißt es in einer Pressemeldung zum Release, was ich im Klartext verstehe als: Da sind noch ein paar Songs übrig, die es nicht auf die bisherigen Alben geschafft haben, aber wäre ja schade drum. Das bedeutet also, dass wir es hier mit einer etwas glorifizierten B-Seiten-Compilation zu tun haben. Als solche war dieses Studioalbum auch ursprünglich gedacht; so hätte es eigentlich einer einstmals geplanten Emigrate-Vinyl-Box als Bonus-LP beiliegen sollen. Nicht die besten Vorzeichen für ein Studioalbum.

Wir schauen auf die Tracklist, und siehe da: überraschend kompakt kommt die daher. Mit lediglich neun Songs ist es das bisher kürzeste Emigrate-Album, und davon ist einer ein Cover und eine andere eine alternative Version einer bereits veröffentlichten Emigrate-Nummer. Das Cover ist eine Interpretation von „Always On My Mind“, der man anhört, wie gern sie episch wäre, stattdessen findet sie sich in einem fragwürdigen Schunkelsumpf wieder. Da hilft auch Till Lindemann, der sich als einziger Featuregast auf diesem Album die Ehre gibt. Denn sein gewohnt schöner, dunkler Gesang wirkt zwischen Glockenspiel-Sounds, Fake-Streichern und der gesammelten Schmalzigkeit einer „Bergdoktor“-Folge irgendwie verloren und seelenlos. Immerhin hat seine Stimme mehr Kraft als die seines Kollegen. Richard Kruspes Versuch, den durch Elvis bekannt gewordenen Hit auf eigene Weise umzusetzen und damit dem Mainstream-Kuschelrock-Publikum zu imponieren, scheitert an der schieren Überladenheit und ertrinkt im Kitsch, als würden Imagine Dragons „The Sound of Silence“ covern. Natürlich bringt allein die Anwesenheit von Till Lindemann hier das Gefühl der Besonderheit mit, und auch aus der knalligen Natur des Covers und ihrem bräsigen Pomp lässt sich für eine Hand voll Durchläufe ein bisschen Spaß gewinnen, aber die Begeisterung flaut genauso schnell wieder ab, wenn man die Tricks erstmal erkannt hat.

Da weiß das dark-rockige „Rage“, das diese Songsammlung eröffnet, mit seinem Main- stream-Appeal schon ein bisschen besser umzugehen, kommt vor allem ehrlicher und frischer daher. Die fast schon Bastille-artige Energie, die der Power-Pop-Nummer innewohnt, ist viel unterhaltsamer, wenn der Song auch in der hinteren Hälfte übermäßig repetitiv wird und ein – im Vergleich zum explosiven Anfang – relativ druckloses Ende erfährt. Auch die erste Single „Freeze My Mind“, obwohl musikalisch nicht einen Deut innovativ, hat zumindest ein schönes Riff und rockt angenehm ab. Er wirkt im Grunde wie der exakte Durchschnitt aller Emigrate-Songs, verhaftet irgendwo zwischen Pop und Dark Rock, und liegt damit genau auf Linie. So spaßig der Song auch ist, er ist so by-the-numbers, dass man ihn kurz nach Hörgenuss schon wieder vergessen hat.

Gleiches gilt für „I’m Still Alive“, welches wie eine Fortsetzung zu „Wake Up“ und „Lead You On“ gleichermaßen anhört. Auch hier wird das Rad nicht neu erfunden, doch eine Überraschung gibt es: überraschenderweise schafft der Song es nämlich, trotz lediglich drei Minuten zwischendurch durchzuhängen und sich gegen Ende in der Wiederholung der immer gleichen paar Zeilen selbst totzulaufen. Der Nummer liegt ein grundsolides Riff zugrunde, der Refrain ist ebenso spaßig, doch so richtig funken will es nicht. „Eine gute Idee bleibt eine gute Idee“, heißt es von Richard Kruspe zum neuen Album. Wenn aber scheinbar die Muße fehlt, diese gute Idee auch zu einem durchweg überzeugenden Song zu machen, kommt so etwas Halbstarkes wie „I’m Still Alive“ zustande. Nicht schlecht, nicht gut, ange- nehm anzuhören, aber warum sollte man, wenn es Emigrate schon unzählige Male vorher gemacht haben?

Was sich daran versucht, eine Ballade über das Altern und Verlust zu werden, verschluckt sich unglücklicherweise an der eigenen Quarkigkeit. „Come Over“ schwankt zwischen Auf-eins-und-drei-Klatsch-Rhythmen, „Speak And Spell“-Synthesizern und einem überprodu- zierten Refrain, bei dem Melodie und Emotionen absaufen gehen. Der Song klingt eher wie eine obskure B-Seite des letzten Depeche Mode-Albums, nur eben ohne das Charisma und die stimmliche Kraft. Es ist vielleicht der Punkt, an dem Emigrate bei aller handwerklich ordentlichen Arbeit am ehesten krankt – Richard ist zwar ein sehr guter Gitarrist und, wenn er will, ein exzellenter Komponist, aber ihm fehlt es an Stimme. Nirgends ist das so allgegenwärtig wie auf „Hypothetical“, und das liegt daran, dass man hier einen direkten Vergleich hat. Als der Song nämlich ursprünglich im Jahre 2014 auf „Silent So Long“ erschienen war, übernahm den Gesang niemand Geringeres als Marilyn Manson. Sieben Jahre später, auf “The Persistence Of Memory”, singt Richard den ansonsten deckungs- gleichen Song vollständig selbst, und fährt den eigenen Song damit ein wenig vor die Wand. Man fragt sich, wozu diese Neuveröffentlichung nützen soll? War es Ego, weil dies zuvor der einzige Emigrate-Song war, auf dem Richards Stimme überhaupt nicht zu hören war? Oder ist es ein Statement im Rahmen der aktuellen Vorwürfe und Anklagen gegen Marilyn Manson? Auch wenn man 2021 vielleicht nicht mehr einfach unbefangen zuhören kann, wenn der mehrfach des Missbrauchs bezichtigte Manson Zeilen singt wie „You don’t know what I’m going to do to you / Let’s fuck“, so muss man ihm, unabhängig vom potentiellen Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen gegen ihn, zugutehalten, dass er einen solchen Song, der schnell peinlich werden kann, so tragen kann, dass er trotzdem funktioniert. Aus seinem Mund klingen diese Zeilen um einiges weniger klotzig, grob und albern als aus dem Mund von Richard Kruspe. Dieser verwandelt „Hypothetical“ mit seinen gepressten und holzschnitt- artigen Vocals von einem anrüchigen und gefährlichen Industrial-Song zu einer holprigen Nummer, die nur bedingt einladend klingt.

Wozu Emigrate fähig sein kann, beweisen Songs wie „Blood Stained Wedding“, das mit seiner enorm post-punkigen Attitüde und schöner Sperrigkeit eine wirklich tolle Atmosphäre zu schaffen weiß, nur vollständig mit diesem ganz typischen Ur-Gothic-Bass und rockigem Drive. Ein durchweg überzeugender Track voller Enge, Spannung und einem Anflug von „teenage angst“, der besonders durch die fehlende Formelhaftigkeit ein großer Hörgenuss ist. Auch die sehr gelungene Single „You Can’t Run Away“, kann eine solch karge Stimmung erzeugen und entfacht einen starken Goth-Charme, der angesichts des Themas (der Song behandelt das Thema Selbstmord) eine wahrhaft morbide Schönheit in sich trägt.

Das experimentelle „Let You Go“, welches dieses Album beschließt, erlaubt sich wiederum auf dreieinhalb Minuten diverse Wechselbäder aus gesampelten Fanfaren, finsteren Stro- phen und einem explosiven Mitgröl-Refrain, der sich mit dem einen oder anderen Vertreter des Contemporary Rock messen kann. Ein exzellentes kleines Stück experimenteller Rock- musik voller Schwere, das, zusammen mit dem bereits erwähnten „Blood Stained Wedding“, auch einige der besten Gesangsleistungen von Richard beinhaltet. Im Kontext der gesamten Emigrate-Diskographie verblasst dieser Song zwar ein wenig, doch er beweist Eigensinn und stimmt zumindest etwas versöhnlich, wenn er auch das Hauptproblem des Albums nicht löst.

Fazit: Wäre der Albumtitel „Old Ideas“ nicht schon von Leonard Cohen benutzt worden, hätte sich dieser als Überschrift für das, was sich nun mit dem Titel eines Dalì-Gemäldes schmückt, durchaus gut gemacht. Während besonders “A Million Degrees” dem Projekt Emigrate zuletzt ein Gefühl von Vollwertigkeit verleihen konnte, wirkt das hier wie eine Ladung Ausschuss- ware. Mit wenigen Ausnahmen merkt man diesen Ideen, die bis auf den Ursprung von Emigrate zurückgehen, ihr Alter dadurch an, dass Richard Kruspe sie seitdem auf viel bessere Arten und Weisen weiterentwickelt hat. Sie kommen dabei viel zu selten über ein „Joah, ganz nett“ heraus, scheinen sich zu oft einem Schema F unterzuordnen und für weite Teile nur bedingt aus dem Knick zu kommen. Das ist wahnsinnig bedauerlich im Anbetracht der Tatsache, wie großartig Emigrate sein kann. Während man den bisherigen Werken dieses Projekts oft die große Liebe zum Detail und die enorme kreative Kraft dahinter anmerkte, möchte man “The Persistence Of Memory” am liebsten den Status “Studioalbum” aberkennen, denn weder im Umfang (34 Minuten auf 9 Tracks), noch in der Konsistenz, noch in der Kontinuität kann es mit dem bisherigen Schaffen mithalten. Aber hier ist sie nun also, diese hochgejazzte B-Seiten-Kollektion, die, losgelöst von ihrer ursprüng- lichen Aufgabe als Bonusmaterial, größtenteils überflüssig und eher wie eine Ausrede für eine Veröffentlichung daherkommt. Die wirklich guten Songs – „Blood Stained Wedding“, die beiden Singles, „Let You Go“ und von mir aus auch die übers Ziel hinausschießende „Always On My Mind“-Coverversion – hätten auch für eine gute bis sehr gute EP ausgereicht. Hier spürt man einen gewissen Funken. Ansonsten schmeckt dieses Album wie in der Mikrowelle aufgewärmte Pizza. Obwohl es mehr hätte sein können, kommt es nicht darüber hinaus, ein Lückenfüller zu sein. Nichts an diesem Album ist wirklich schlecht – es erscheint nur außerordentlich blutleer. „Es sollte dieses Mal nicht zu komplex werden“, heißt es im Pressetext zum Album. Leider ist es stattdessen erstaunlich langweilig geworden.

Tracklist:

01 Rage
02 Always On My Mind (feat. Till Lindemann)
03 Freeze My Mind
04 I’m Still Alive
05 Come Over
06 You Can’t Run Away
07 Hypothetical
08 Blood Stained Wedding
09 Let You Go

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Release: 12.11.2021
Genre: Alternative Rock
Label: Sony Music/Emigrate Production Gmbh

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