Wunderbar wundersam, einerseits obskur, gleichzeitig wunderschön, eine ganze Welt in vergleichsweise wenig Ton, irgendwie eingängig und irgendwie sophisticated: Deine Lakaien präsentieren ihr erstes Nicht-Best-of seit 2014, und es ist überaus opulent. „Dual“ nämlich ist, wie der Titel schon vermuten lässt, ein Doppelalbum. Insgesamt 20 Songs, davon eine Hälfte Eigenes und eine Hälfte Cover legen Ernst Horn und Alexander Veljanov vor.
Ab Sekunde eins sitzt die Stimmung. Genießt man die ersten Momente von „Because Of Because“, gepaart mit seichter Synthetik und klackenden und schabenden Geräuschen aller Ort, fühlt man sich angekommen in einem Album für Nächte allein auf dem Balkon. „Don’t you feel ashamed? Never disrespect the fate we’re all longing for“ intoniert mit weichsten Tönen Veljanov, während Horn uns hier und da fast in eine Art Minimal-Industrial zerrt. Besonders auf den letzten zwei Minuten macht sich fast ein „Construction Time Again“-Gefühl breit. Auch „Sick Cinema“ präsentiert sich mit einer Mischung aus Opernstimmung, altertümlich anmutenden Instrumenten, Orgel, und Post-Punk-Bass. Das ist fesselnd, und typisch Deine Lakaien so aus der Zeit gefallen, dass damit fast eine gewisse Ewigkeitsgarantie einhergeht.
„In Your Eyes“ lebt von Dramatik und hintergründiger, ordentlich distorteter E-Gitarre, „Snow“ wiederum ist ein derart schönes Stück Musik, das mit einer derartigen Größe und Wärme dahinkommt, dass es fast etwas Märchenhaftes hat. Zeilen wie „Where have you gone and why did you leave us alone?“ werden auf derart zarte Weise präsentiert, dass es mich himmelhoch jauchzen lässt. Zwischen tieftraurig und so ungeheuer schön wandelt der Hörer und genießt, was sich ihm da durch diese unfassbare Instrumentierung samt warmer, weicher Synths und Streichern so alles auftut.
Auf „Happy Man“, ein Titel, der etwas ironisch wirkt, hören wir dann den wohl bis dato groovigsten Drumbeat der Platte. Hier und da dröhnt eine kleine Gitarre dazwischen, die kalten Drums aus der Dose klappern vor sich hin, und in der zweiten Hälfte spitzt es sich dann nochmal so ein kleines bisschen zu, wird zu etwas, das wie aus den Achtzigern herbeigebeamt wurde. Auch „Run“ hat eine Synthmelodie, die an Bekanntes erinnert, gepaart mit einigen Stereo-Spielereien – Kopfhörerfans dürfen sich freuen, dass Veljanov uns immer wieder „Run, run!“ abwechselnd ins linke und rechte Ohr haucht. Am Ende dreht der Lead-Synth dann völlig am Rad, und wir bekommen Glockenschläge und Vocal Layering vom Feinsten.
Auf „Les Oiseaux“ bleibt das Soundbild eigenartig, aber gut, mutet mit den dezent eingesetzten Synthchören fast ein bisschen schief und bedrohlich an. Dazu singt Veljanov hier auf Französisch, wiederholt immer wieder den Titel des Songs (übersetzt: die Vögel – dafür hat sich das Abitur gelohnt!), und ja, es klingt ein bisschen wie das Kreischen von Vögeln, synthetisiert, was wir hier und da wahrnehmen. Ungeheuer faszinierend.
Track nummer neun – „Qubit Man“ – drückt dann so richtig auf die Tube. Aufgeregte Streicher, ungehalten und verunsichernd. „You lead us to the gates of paradise“, und daraufhin etwas, das klingt wie ein Computerabsturz, oder ein kaputtes Atari-Spiel, dass es einem den Schauer über den Rücken jagt. Es ist der Punkt, an dem man vom Balkon runterschaut, ob dort nicht jemand steht, der einen beobachtet, doch „Someone To Come Home To“ söhnt dann wieder aus, mit Seichte, Weiche, auf leisen Sohlen kommend und viel Atmosphäre mit sich bringend, von klassischen Instrumenten bis zu digitalen und synthetischen Tönen, dazu diese wahnsinnig meditative Vocal Performance. Es ist ein Träumen, ein großes Sehnen – „Somewhere, somewhere!“, während gleichzeitig ein lyrisches Motiv aus „Snow“ zitiert. In der zweiten Hälfte des Songs wird es dann ein wenig verschrobener, verliert aber nichts von der Hypnosewirkung, gebrochen trifft einen die Schönheit dann doch. Seltsam, wundervoll, großartig.
Damit endet der erste Teil des Doppelalbums. Es folgen zehn weitere Songs – Coverv- ersionen alle davon. Sei es „Because The Night“ von Patti Smith, mitgeschrieben von Bruce Springsteen, das einen herrlichen Deine Lakaien-Charme aufgedrückt bekommt und die Stimmung des originalen Songs ein klein wenig verschiebt. Das Bild hängt so ein bisschen schief. Genau das ist der Zauber. „Spoon“, im Original von Can, ist natürlich eine Hommage an diese andere große Avantgarde-Band, die den Jazz-Elementen des Originals eine Art „Space-Jazz“ entgegensetzt. Es klingt wie eine Bigband im Orbit, elektrisiert, frisselnd, wie sich aneinander entladene Teilchen, zuckende Linien auf den Bildschirmen.
Ebenfalls sehr schön: Dass einer meiner persönlichen Lieblingssongs von The Cure hier gewürdigt wird. Stimmlich kommt Alexander Veljanov der Smith’schen Sturm-und-Drang-Jungenhaftigkeit auf „The Walk“ unglaublich nah, wenn auch diese Version doch etwas von ihrer Tanzbarkeit einbüßt. Ein bisschen rhythmisch verwaschener, ist dieses Arrangement definitiv eine sehr interessante, hörenswerte Abwechslung – denn hier sitzt jeder Ton, wenn er auch dort trifft, wo man es nicht erwartet. Hier und da hat es fast schon einen leicht asiatischen bis afrikanischen Einschlag, und auch hier wieder die maschinenartigen Geräusche. „Dust In The Wind“, im Original von Kansas, behält die Saiteninstrumenten- lastigkeit der Urversion, verschiebt das Ganze aber auch hier wieder in andere geogra- phische Gefilde. Dazu brodelt und unterstützt der Synthesizer mit mancherlei Klopfen und Wabern. Herrlich!
Allein schon lyrisch dürfte sich „Suspended In Gaffa“ von Kate Bush auf diesem Album übrigens auch ausgesprochen wohl fühlen: man hört den Text und denkt: „Ah, äh.“ Hier wird es instrumental nahezu fröhlich mancherorts, mit gesampleten Blasinstrumenten und einem Sing-Sang seitens Veljanov. Wie schon auf der ersten CD gibt es auch hier eine französische Nummer: „La Chanson Des Vieux Amants“ transferiert den Stil der französischen Chansons, wie wir sie kennen und insgeheim alle irgendwie auch so ein bisschen geil finden, auf sehr gelungene Weise. Spontan, mit fast schon lässiger Dramatik segelt dieses Ding gerade so hinweg und überzeugt auf ganzer Liebe, trägt so viel Leichtigkeit und Schwere zugleich in sich – wunderbar filigran.
Als nächstes: ausgerechnet Soundgarden mit „Black Hole Sun“! Mit schlagenden Drums, reduziertem Tempo und ungeheuer finsteren Synths definitiv einer der bösesten Songs – doch diese Bosheit drückt sich besonders in der Subtilität aus. Passend. Nicht weniger bedrückend wird „Lady D’Arbanville“, denn die unheilverkündende Halbnaivität, die sich im Text ausdrückt, setzen Deine Lakaien ganz ausgezeichnet um. Immer wieder glaubt man, kleine Schreie im Hintergrund zu hören, und während Veljanov herzzerreißend und liebevoll singt, bricht musikalisch immer wieder diese Dissonanz heraus, dass hier irgendwas gerade gewaltig im Argen ist, was durch einen „Lalala“-Part nur noch einmal konterkariert wird. Das ist wirkungsvoll, unglaublich spannend, und kompositorisch sowie gesanglich fantastisch umgesetzt.
Der „Song Of The Flea“ ist ein russisches Stück von Mussorgsky, das Flohlied, und ja, es ist ungeheuer russisch. Veljanov schlüpft hier großartigst in die Rolle des Mephisto, und lacht herrlich böse, während er die russische Übersetzung des Faust präsentiert. Den Renaissance-Ton gepaart mit russischem Ramtamtam wird unglaublich gut übertragen, aber wenn es auf die letzten Sekunden dann so richtig finster wird und das sinistre Lachen am lautesten ist, dann erst fühlt man sich so richtig in Auerbachs Keller. Zu guter Letzt hören wir Schritte im Schnee, ein kompletter Bruch, denn von Mephisto und dem 19. Jahrhundert kommen wir zu Chester Bennington und der Linkin Park-Interpretation „My December“. So wird es zum großen Finale nochmal so richtig wunderbar, denn natürlich übersetzen Deine Lakaien diesen Song ganz wundervoll in eine ruhige, zurückgenommene, ungeheuer herzzerreißende Ballade, die streichelt und hinterm Rücken zuschlägt. Mit Tränen in den Augen verlässt man den Balkon, der Kopf schwirrt in fremden Welten, und die Welt ist so schön, die Welt ist so schrecklich.
Fazit: Ich wiederhole mich: „Das Bild hängt so ein bisschen schief. Genau das ist der Zauber.“ Mit ihrer Eigenwilligkeit und punktgenau erarbeiteten Musik, die immer etwas außerhalb allem klingt, schaffen Deine Lakaien ein ganz wundervolles Doppelalbum und hauchen auch den Coversongs eine ganz besondere Magie ein. Man geht auf Reisen mit dieser Musik, man wird von ihr auf die schönste Weise berührt, die es gibt: Auf jene Weise, die man nicht versteht. Und man muss sie auch nicht verstehen, denn hier wird ganz großes Kino auf den verschiedensten Instrumenten, die man sonst vielleicht nie im selben Raum wähnen würde, erzeugt. „Snow“, „Les Oiseaux“ und „Qubit Man“ haben mich auf dem ersten Teil dieses Albumduos nachdrücklich begeistert, und „Song Of The Flea“ und „Lady D’Arbanville“ sind mir vielleicht die liebsten der durchweg äußerst gelungenen Neuinterpretationen. Nun, was soll man groß sagen? Erklärungsversuche für diese Band kann ich nicht bieten. Was ich allerdings bieten kann, ist eine Hörempfehlung. Die Analyse würde nur versagen, einfach auf den Balkon setzen, sobald es Nacht ist, Kopfhörer auf, dieses Album an, und dann sehen, wohin es einen trägt. Eine spannende und immer wieder beeindruckende Reise ist es alle- mal.
Tracklist:
CD1:
01 Because Of Because
02 Sick Cinema
03 In Your Eyes
04 Snow
05 Happy Man
06 Run
07 Les Oiseaux
08 Unknown Friend
09 Qubit Man
10 Someone To Come To
CD2:
01 Because The Night
02 Spoon
03 The Walk
04 Dust In The Wind
05 Suspended In Gaffa
06 La Chanson De Vieux Amants
07 Black Hole Sun
08 Lady D’Arbanville
09 Song Of The Flea
10 My December
Kaufen: Amazon
VÖ: 16.04.2021
Genre: Avantgarde, Electro Wave, Dark Wave
Label: Chrom Records
Deine Lakaien – Dual Tour 2021/2022
16.10.2021 Wiesbaden, Kurhaus
17.10.2021 Ludwigsburg, Scala
19.10.2021 Leipzig, Gewandhaus
28.10.2021 Köln, Tanzbrunnen
29.10.2021 Bremen, Metropol Theater
04.11.2021 Dresden, Kulturpalast
05.11.2021 Berlin, Admiralspalast
11.02.2022 Dortmund, FZW
13.02.2022 Hannover, Capitol
15.02.2022 Nürnberg, Löwensaal
16.02.2022 Erfurt, HsD Gewerkschaftshaus
17.02.2022 Frankfurt am Main, Batschkapp
18.02.2022 Stuttgart, Wagenhallen
19.02.2022 München, Muffathalle
Deine Lakaien im Web: