25 Lenzen auf dem Buckel und kein bisschen leise, stattdessen sind Blutengel so erfolgreich wie eh und je: das Berliner Darkpop-Duo ist fest verankert sowohl in der Schwarzen Szene als auch in den deutschen Charts, die Fanbase ist treu und kauffreudig, auch, wenn sich eine Deluxe Box wie im hiesigen Fall mal im niedrigen dreistelligen Bereich bewegt. Zum Jubiläum gibt es also nicht nur Neuauflagen der bisherigen Diskographie en masse, sondern natürlich auch ein neues Album: “Un:Sterblich – Our Souls Will Never Die” heißt dieses und wartet, dem Geburtstag angemessen, mit sage und schreibe 25 Titeln auf. Ziemlich genau zwei Stunden neuer Musik liegen vor, die Standard-Edition umfasst bereits zwei CDs.
Rezensionen über Blutengel zu schreiben, bedeutet immer auch Meckern auf hohem Niveau. Die meisten Kritikpunkte werden eh herzlich egal, wenn man die Band live sieht. Dass man bei den Songtexten die eine oder andere Bingo-Runde gewinnen kann, wenn man auf die Anzahl von Begriffen wie „Blut“, „Seele“ oder „Dunkelheit“ achtet (die fast in jedem Song vorkommen), ge- schenkt. Dass sich hier soundtechnisch extrem wenig tut, ebenso völlig egal: auf einem Jubiläumsalbum ist das Selbstzitat nicht nur zu entschuldigen, sondern wünschenswert. Auf „Tief“ wird der Staub vom „Lucifer“-Klavier gefegt, „Meine Macht“ ist ein Rewrite von „Dein Gott“, und das Highlight „She’s Missing…“ tanzt sich ähnlich in Trance wie die Kooperationen mit Grenzgaenger des „In Alle Ewigkeit“-Minialbums.
Wenn hier jedoch Experimente gewagt werden, gelingt dies zumeist: auf „Can You See Me?“ wird sehr effektvoll mit Stimmverzerrung, die gar nach kunstvoll eingesetzter Pitch-Correction (ver- gleichbar mit „Lügen“ von Rammstein) klingt, genutzt, um die mystische Atmosphäre zu unterstreichen. Auf „No Suicide Song“ wird aus einer geloopten Melodie mit vier Tönen mithilfe mantraartig sich wiederholenden Vocal Samples eine ordentlich spannungsgeladene und unheim- liche Nummer mit langsamer Steigerung geholt. „Nobody“ konfrontiert den geneigten Blutengel -Hörer gar mit einer Country-Gitarre, die beflissen vor sich hinjodelt, bevor der Song in der zweiten Hälfte eine eher rockige Richtung einschlägt. Sowieso profitiert Blutengel von Rock-Elementen außerordentlich.
Gesanglich ist Chris im tieferen Register weit mehr zu Hause, als wenn es in die Höhe geht. Klingt sein Stakkato-Predigen und -Fordern stets mächtig und gefestigt, wird er in den höheren Registern ein wenig wackelig. Auch lyrisch funktioniert die Pohl’sche Magie leider nur begrenzt, denn auch hier ist das Mastermind mehr in einer kommandoartigen Sprache zu Hause. So klingt das instrumental zwar durchaus verheißende „Sinful Games“ an der Lyrik-Front dann doch etwas zu stolperig, um wirklich sexy zu sein. Auf „Ohne Wiederkehr“, das sich als Ballade des Stils „Ein Augenblick“ anbietet, klingt er streckenweise in seiner Hölzernheit verloren im durchaus epischen, orchestral ausgefeilten Instrumental. „Ist es besser, wenn du gehst? Ist es besser, wenn ich geh? Es wird vielleicht besser werden, aber niemals gut“, singt Chris da, und klingt dabei zu banal für die Herzschmerz-Melodie, die er sich gebastelt hat. Gerettet wird dieser Song gerade noch durch den sperrigen, fast Martin-Gore’schen C-Teil.
Wichtiger sind jedoch die Momente, die funktionieren: Auf „Kein Mensch“ wird auch lyrisch ein grandioser Gröl-Refrain gezaubert, den man auch ohne Deutschkenntnisse mit etwas Übung mitschreien kann und der gleichzeitig die Message zusammenfasst: „Ich bin kein Mensch. Ich möchte nie wie Menschen sein. Menschen töten Menschen.“ Auf dieser Misanthropie-Hymne gelingt es Chris, mit wenigen Worten alles zu sagen. Auch „Fliegen“ funktioniert als Dialogstück, dem fast eine Musical-Qualität innewohnt, in dem Chris und Ulrike in die Rollen eines Liebes- paares schlüpfen und einander förmlich ansingen – samt Bruch mit der angedeuteten Hoffnung. Man lege hier bitte besonderen Wert auf die Engelschöre. „Dunkelheit“ weiß ebenso lyrisch hier und da durchaus zu überzeugen.
Darüber hinaus gibt es Gassenhauer nach Maß, hier vereinen sich einige zukünftige Staples der Live-Performances dieser Band, bei denen meine Kritikpunkte eh wieder irrelevant sein werden. Denn zu der „You Walk Away“-artigen Nummer „Our Souls Will Never Die“ lässt es sich großartig abtanzen. Mit „Living On The Edge Of The Night“ bekommen wir darüber hinaus eine weitere großartige Szene-Hymne, die textlich zwar ausgesprochen plakativ auffällt, sich aber dennoch problemlos feiern lässt. Die womöglich unfreiwillige Lesley-Gore-Anspielung („It’s our life and we can cry if we want to”) hat mich hier aber sehr gefreut. Auch „Wir sind unsterblich“ macht im Alternative-Mix mit Future-Pop-Einschlägen einen ziemlich schlanken Fuß. Und natür- lich strotzt dieses Album nur so von 80s-Referenzen – wie zum Beispiel auf „Journey“, das an sich ein hervorragender Song ist, jedoch beim Durchhören etwas untergeht, weil man irgendwann damit beschäftigt ist, nachzurechnen, wie oft Chris eigentlich schon darüber gesungen hat, dass er irgendetwas „for too many years“ gemacht hat.
Und natürlich kann eine Blutengel-Rezension von mir nicht enden, ohne noch ein wenig Ulrike Goldmann zu huldigen. Gerade auf „The Prophecy“ holt diese große Sängerin alles aus sich heraus und legt eine wahnsinnige Performance hin, auch das bereits erwähnte „She’s Missing“ muss hier nochmal lobend erwähnt werden. Ulrike macht nach wie vor einen nicht zu vernach- lässigenden Teil des Charmes von Blutengel aus und ist definitiv die beste Background- und Co-Sängerin, die je Teil dieser Band war.
Fazit: Blutengel haben uns in ihrem Vierteljahrhundert reichlich Hits beschert, und auch das neue Album wartet mit dem einen oder anderen Evergreen-to-become auf –diese Formel beherrscht Chris Pohl mittlerweile aus dem Effeff. Doch auf einem Jubiläumsalbum, vor allem in diesem stolzen Umfang, werden Redundanzen nur umso deutlicher, denn die Trickkiste von Blutengel ist klein, aber potent. Hier wird sie bis zum Umfallen ausgelotet. Jedoch: manche Treffer, so archetypisch sie auch sind, sitzen, und wenn sich das Berliner Duo doch mal aus der Komfortzone wagt, entstehen sehr spannende Ansätze. Gern weitere fünfundzwanzig Jahre! Mögen sie qualitativ ähnlich hochwertig bleiben, aber mehr Mut zur Abwechslung mitbringen!
Wer noch mehr über das 25. Jubiläum und dem neuen Album “Un:Sterblich – Our Souls Will Never Die” erfahren möchte, dem sei HIER unser Interview mit Chris Pohl wärmstens emp- fohlen.
Tracklist:
CD1:
01 The Void – Prologue
02 King Of Blood
03 Unsere Zeit läuft ab
04 We Belong To The Night
05 The Last Crusade
06 Fliegen
07 Tief
08 Dark History
09 Kein Mensch
10 Shine Again
11 Living On The Edge Of The Night
12 The Prophecy
13 Wir sind unsterblich (Alternative Mix)
14 Ohne Wiederkehr
CD2:
01 Can You See Me
02 Back For Blood
03 Journey
04 Meine Macht
05 Sinful Games
06 No Suicide Song
07 Our Souls Will Never Die
08 Nobody
09 Dunkelheit
10 She’s Missing…
11 Frei sein
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VÖ: 12.05.2023
Genre: Dark Pop
Label: Out Of Line
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