Als Synästhesie bezeichnet man ein Phänomen, bei denen verschiedene Sinneswahrnehmungen gekoppelt sind – unter anderem, dass man beim Hören von Musik Farben sieht. So heißt nun auch das neue Remix-Album von Anne Clark, der legendären Spoken-Word-Künstlerin und Stimme hinter Hits wie „Our Darkness“. „Mein Gedanke dahinter war“, sagt sie im Dark Music World-Interview, „dass Musik uns auf so viele Arten und Weisen berührt und mitnimmt, nicht nur durch ihren Klang. Sie entfacht so viele Erinnerungen und Wahr- nehmungen. Sie ist wirklich mit unseren Erfahrungen und den Sinnen, mit denen wir diese Erfahrungen machen, verbunden.“
Und so muss man sagen: ja, die Songs erzeugen in ihren neuen Gewändern in jedem Fall Bilder. Während „Entire World“ einen eher Ambient-artigen Zauber erhält, flächig, ruhig und weit, wird der Song „Take Control“ dank der großartigen Band Solomun (die unter anderem mit „Kreatur der Nacht“ auch einen Beitrag zum Soundtrack des Remakes von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beisteuerten) zu einer waschechten Techno-Nummer, die fast das „Our Darkness“-Phänomen wiederholt – mitten in unserem Zeitgeist stehend, durch musikalische Aktualität, gepaart mit der drängenden Lyrik von Anne Clark.
Auch der langjährige Anne Clark-Kooperator herrB steuert mit „Wallies“ einen „Kickin‘ Mix“ bei, und ja, das kickt schon gehörig. Der Beat geht ordentlich voran, mit leichten Industrial-Sounds hier und da, sogar eine Polizeisirene stattet dem Arrangement hier einen Besuch ab. Auch hier ist die Aktualität des Texts erwähnenswert („Hunted for just having some sort of identity“) – unbedingt mal anhören, da findet man einiges sehr Interessantes. Der Remix ist ansonsten durchaus groovy, aber vielmehr straightforward und weniger um die Magie, das Mitreißende, das fast schon Berauschende (wie beim Solomun-Remix) bemüht.
„Orange Suns“ bekommt von Melting Rust Opera einen Anstrich verpasst, der dem Namen dieser Band durchaus angemessen ist. Hier wird es nochmal Sample-lastiger, das Intro hat fast schon etwas vom brillanten Depeche Mode-Klassiker „Pipeline“. Die maschinellen Sounds tragen ihren Teil zur Synästhesie in jedem Fall bei – hier wird durch Geräusche ein umfangreiches Klangbild generiert, ein Film vorm inneren Auge, und die Nummer lässt sich zweieinhalb Minuten Zeit, bis Anne Clarks Stimme überhaupt zu hören ist. Spannend ist hier die Background-Stimme, die – durch mancherlei Echo und Verzerrung nur manchmal zu verstehen – Teile des Texts ins Deutsche übersetzt rezitiert. Der Kontrast durch die männliche Stimme sorgt für einen interessanten Widerhall, den diese Nummer hinterlässt. Zu Recht ist gegen Ende der Nummer Applaus zu vernehmen – spannend, nachdenklich machend, atmosphärisch, träumerisch.
Auch Andreas Bruhn (bekannt von Max Melvin, aber auch als Produzent von z. B. Doro Pesch oder Exgitarrist von den Sisters Of Mercy) lässt sich nicht lumpen, und so wirkt seine Version von „Heaven“ teilweise wie ein Stück aus dem Soundtrack der brillanten Portal-Spiele, trägt gleichzeitig aber auch eine diffuse Opulenz in sich, eine gewisse Unruhe. „In a world of cold flesh, cold steel, cold storm“ befinden wir uns – und das wird famos umgesetzt. Was für ein Sog, aufregend, und besonders die Rhythmik von Anne Clarks Rezitation harmoniert hier absolut brillant mit dem Sound. Wenn dann auch noch eine Sängerin mit einsteigt und fast schon einen Within Temptation-Flair erzeugt, geht das richtig an die Substanz. Was für eine hochspannende Umsetzung.
„Sometimes“ wird in der Version von Sea Of Sin hingegen fast schon pop-rockig, getränkt in Melancholie und Pathos, wenn auch dieser Mix nicht sonderlich kantig daherkommt. Unaufregend und mit viel Schönem dabei kommt das Arrangement daher, reißt hierbei allerdings bei weitem nicht so sehr vom Hocker wie der teils wirklich brillante Text, den wir hier zu hören bekommen – und das ist gut so, denn so kann man sich genau auf ihn konzentrieren. Zwischen Elektronik und Streichermusik bewegen wir uns derweil auf „Waiting“ in der Version von Yagya, die so spacig, groß und warm und schön daherkommt, mit pulsierenden Synths und einer fast schon meditativen Stimmung, wunderbar dezenten Drums – man möchte sich einfach reinlegen.
„The Hardest Heart“ hingegen klöppelt wieder und beginnt mit einem staubtrockenen, drückenden Drumbeat, der Großes ankündigt. Blank & Jones kreieren hier um die Stimme von Anne Clark fast neun Minuten technoides Gewitter mit ordentlich Tanzqualität, das eine Kopfkino-Lasershow entfacht. Die Drums zappeln nur so vor sich hin. Über seine Spielzeit hinweg durchgeht man einen grandiosen Spannungsbogen, abwechslungsreich, motivierend und energetisch.
CD 2 beginnt mit „Hope Road“, und der Deadbeat Remix macht wiederum Anne Clark fast schon zu einer Hintergrunderscheinung, die gelegentlich echot. Prominent ist hier die angenehme männliche Sängerstimme, halb säuselnd, halb erzählend, fast besoffen, die fabelhaft mit Anne Clark harmoniert, es entsteht fast ein Hin und Her. Musikalisch wird es ausgesprochen avantgardistisch, Rhythmik und Melodie sind fast nicht vorhanden, stattdessen: Sounds über Sound, bis man sich selbst wie betrunken fühlt. Sehr interessant. „Virtuality“ von Johannes Brecht hingegen kommt wieder etwas technoider daher, verträumt und trotz viel Elektronik mit viel Piano versehen. Dieses setzt sehr interessante Akzente und sorgt für erdige Noten, während Synths und digitale Drums sich immer weiter aufbauen, bis hin zu einem orchestralen Outro.
Von hieran lässt die B-Seite aber etwas nach. Der Synthpop herrscht auf „A Community Of The Spirit“ und kommt sehr retroesk daher, hat alles in allem aber ein recht klassisches, typisches Gesamtbild. Das klingt alles gut und schön, ist aber primär aufgrund der Nostalgiefaktoren interessant. Der größte Zauber liegt wieder in der Art, wie Anne Clarks Stimme, verstärkt durch Echos, die Stimmung zeichnet. Das Instrumental wirkt hierbei mehr wie Hintergrundmusik. Okaye Version, aber betrachten wir die Neubearbeitung des vielleicht größten Clark-Hits: „Our Darkness“. Sich an diesen Klassiker heranzuwagen, ist eine große Ehre – und keine leichte Aufgabe. Marc Romboy kreiert hierbei eine sehr mechanische, kühle, wenig drängende Version, die sehr sperrig daherkommt. „Dancing all the time“ ist nicht das Motto dieses Remixes, der fast entkernt von jeglicher Emotion, Aufgeregtheit und Drang wirkt. So richtig aus dem Quark kommt diese Variante leider nicht.
Thomas Rückoldt darf unterdessen ein zweites Mal ran, wieder mit „Entire World“, dieses Mal in einer Dance Version – und ja, in der Tat, das stimmt. Hier groovt es um einiges mehr, und es gibt ein paar sehr freundlich klingende Synthesizer. Schön und gut, aber der erste Versuch mit diesem Song ist doch etwas interessanter geworden. Synästhesie bekommt man hier nicht unbedingt, sondern eben eine unaufgeregte, angenehme, relativ glatte Dance-Version. Synth- bis Future-Pop, ohne Wolken am Himmel, alles ist ganz nett. Der „Sleeper In Metropolis“ kommt ebenfalls nochmal vorbei, begeistert aber nicht so wie der „Sleeper In Metropolis 3000“-Remix. Hier wird zwar wieder mehr auf den Drums geballert und es gibt technoübliche Delays, aber wenig Spektakuläres. Das Original wird hier mit einigen Synths und vor allem zügigen Rhythmen aufgepeppt, aber eine wirkliche Frischzellenkur ist das nicht, eher eine vorsichtige Modernisierung, die sich von der Quelle nicht allzu weit zu entfernen traut. Auch das ist schön, entfacht aber keine Begeisterungsstürme. Im Club würde ich vielleicht durchaus mal dazu tanzen, aber es fehlt auch hier schlichtweg an Magie.
Fazit: „Synaesthesia“ ist ein sehr spannendes Projekt voll mit schönen Ideen, das allerdings ein wenig an Umfang und Zusammensetzung krankt. Auf die letzten vier Songs hätte man ohne große Probleme verzichten oder sie geschickter in der Tracklist platzieren können, damit das Album nicht im letzten Drittel so abfällt. Dann hätte auch eine CD gereicht – und durch die Kondensation hätte das Album profitiert. Denn hier passiert wirklich viel Interessantes, es gibt viele spannende Klangwelten und Stimmungen zu erkunden, und mit seinem Variantenreichtum und der trotzdem vorhandenen Homogenität ist der Großteil dieser Compilation wirklich ein Genuss. Schmeißt man also die gut gemeinten, aber schlichtweg nicht so herausragenden Nummern von „A Community For The Spirit“ an runter von der Platte, hat man hier ein dichtes, vielseitiges und durchweg überzeugendes Remix- und Reinterpretationsalbum vor sich, das absolut hörenswert ist. Dieser Kern von „Synaesthesia“ ist ausgesprochen fantastisch, atmosphärisch, geht tief, reißt mit, und zeigt die Aktualität und den fortbestehenden Zauber von Anne Clark fabelhaft auf.
Tracklist:
CD 1:
01 Entire World (Ballad Remix) – Thomas Rückoldt
02 Take Control (Solomun Tribute Remix) – Solomun feat. Anne Clark
03 Wallies (Kickin’ Mix) – herrB
04 Orange Suns – Melting Rust Opera
05 Heaven – Andreas Bruhn
06 Sometimes – Sea Of Sin
07 Waiting – Yagya
08 The Hardest Heart (2021 Revisit) – Blank & Jones feat. Anne Clark
CD 2:
01 Hope Road – Deadbeat
02 Virtuality – Johannes Brecht
03 A Community Of The Spirit – Svensyntetics
04 Our Darkness (Marc Romboy Respect Mix) – Marc Romboy
05 Entire World Dance Remix – Thomas Rückoldt
06 Sleeper In Metropolis – Robin Hirte
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VÖ: 28.05.2021
Genre: Electro/Experimental
Label: FDA/Anne Clark
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