Ich möchte mit einem Geständnis beginnen: Ein wenig schäme ich mich. Angesichts der Veröffentlichung des neuen Albums von Joachim Witt, der dritten Platte im Kosmos des sympathischen Berggeistes – angesichts des Releases von „Rübezahls Reise“ also habe ich noch einmal meine Rezension zum Vorgänger „Rübezahls Rückkehr“ (2020) gelesen. Dieser sei, so schrieb ich damals, „zwischenzeitlich ärgerlich zahnlos, inhalts- sowie wort- schwach und anbiedernd“. Dafür schäme ich mich heute, denn Joachim Witt hat etwas getan, was ich ihm jederzeit zugetraut habe, was mich aber trotzdem im Anblick seiner Konsequenz völlig erdrückte: Mit „Rübezahls Reise“ hat er nicht nur ein bedeutend besseres Album vorgelegt, er hat sich förmlich ein Monument gebaut, um diesem Monument wiederum ein weiteres Monument zu errichten. Damit hat er mich nicht einfach nur im Anbetracht der letzten Durchhängeplatte ausgesöhnt, nein, er hat mich regelrecht Lügen gestraft. Was uns der altehrwürdige Großmeister nämlich hier vorlegt, ist ein wahn- sinniger Brocken.
Das Album legt bereits mit einem Knall los. Düstere, herrschaftliche Synthies und kloppende Gitarren: „Über nassen Schotter weht der Wind / Bin ein Globetrotter, im Kopf ein Kind“. „Rübezahl“, praktisch der Titeltrack dieser Trilogie, arbeitet mit wunderbaren Gesangs- spielereien von Joachim Witt, der hier fast keuchend den Mythos wieder aufnimmt: der gepeinigte und an seiner Übermacht leidende Rübezahl, der von den Menschen gefürchtet und gemieden wird. Von der Einsamkeit geplagt verkündet er: „In die Ferne will ich ziehn!“ – und wenn man möchte, dann erkennt man hier schon gewisse Parallelen zwischen der Geschichte, die Witt erzählt, und ihm selbst.
So begibt sich Rübezahl also auf die Reise – mit „In Einsamkeit“, einem Song, der so episch klingt, als wäre er für den Soundtrack der kommenden „Herr der Ringe“-Serie geschaffen wurde. Ein Koloss wütet, zerreißt die Welt um sich, und implodiert im Refrain schließlich im Erkennen der eigenen Einsamkeit. Gemeinsam mit Chris Harms, der Witt auch für dieses Rübezahl-Album wieder zur Seite stand, grölt und schluchzt Witt die Klaviatur der Dynamik zwischen Zorn und tiefer Verletzung auf und ab, dass man Gänsehaut bekommt. Was für ein Brett.
„So fern“ klingt nicht weniger cineastisch, getragen von Aufbruchstimmung und Drohnen- aufnahmen einer Berglandschaft, der Text voller Verheißungen – „Wer bricht nicht Regeln für sein Ziel?“ – aber auch wieder Referenzen an das eigene Werk: „Ich schlag die Trommeln quer, ich bieg den Takt“ ist nicht nur Revoluzzer-Romantik, sondern auch eine treffende Zusammenfassung für das musikalische Œuvre des bald 73 Jahre alten Ausnahmekünstlers.
Und wo wir gerade bei diesem Ausnahmekünstler sind: Mit dem zauberhaften „Shandai Ya“ knüpft Witt gleich an zwei Songs aus den ersten beiden Rübezahl-Alben an, so handelt es sich um seine Version des gleichnamigen Songs von The Mystery Of The Bulgarian Voices, welche hier ein wahrlich episches akustisches Panorama freisetzen. Dieses Lied schlägt einerseits eine Brücke zu „Zora“ aus dem Rückkehr-Album (eines der Highlights dieser Platte!), auf dem ebenfalls eine bulgarische Sängerin mit ihren traditionellen Gesängen für die grandiose Atmosphäre des Songs mitverantwortlich war. Als Nicht-Ur-Witt-Nummer – der Song „Shandai Ya“ ist von diesem bulgarischen Traditionschor bereits im Frühjahr 2020 veröffentlicht worden – steht das Lied zudem neben „Quo Vadis?“ vom ersten Rübezahl-Album, das ursprünglich ein U96-Song war und kurz nach Rübezahl auf deren Album „Reboot“ erschien. Wie klingt „Shandai Ya“ nun also im Rübezahl-Kosmos? Groß, fett, satt, und wundervoll, voller Texturen und Fläche, Fernweh, Gerüchen und Farben.
Der nächste Mitreißer folgt sogleich – in Form von „Die Wölfe ziehen“, einer brodelnden und düsteren Nummer voller schwarzer Bilder, Witt gibt das verschwörerische Alphatier, raunt und prophezeit und erzählt von Kriegsbereitschaft und von der Kälte des Winters, aber auch von der Wärme, die der Zusammenhalt liefert. „Die Herde, sie kommt aus finsterem Tal und leckt meine Wunden gesund, dann steht über mir mein erlösender Schrei: Der Wolf ist für immer dabei!“ – und angesichts der Düsternis und der Eiseskälte auch immer der Hoffnungsschimmer: „Morgen wird’s wieder grüner blühen!“ Alles weitere schreitet derart opulent und tief atmend durch die Lande, dass es Ehrfurcht erweckt.
Es folgt mit „Abendwind“ die erste Quasi-Ballade, die trotz bedeutend tristerer Grundstim- mung nicht auf die treibenden Drums (die eine der größeren Qualitäten dieses fantastischen Soundbilds sind und sehr viel Auswirkung auf die Atmosphäre haben) und Chöre verzichtet. Hier wird sich auf eine wahrlich liebliche Melodie eingelassen, die Joachim Witt fast schon schlafliedartig säuselt, bevor sie fast bis zum Post-Kitsch gesteigert wird. Und dies verfehlt seine Wirkung nicht: diese wahrlich schöne und starke Nummer setzt der Überstärke der bisherigen Songs einen nicht minder kraftvollen Moment des Verträumtseins entgegen. „Abendwind“ ist der Moment auf Rübezahls Reise, an dem dieser sein Nachtlager aufschlägt und in das tiefe, weite und menschenleere Tal zu seinen Füßen blickt, während die Sonne langsam zwischen schneebedeckten Berggipfeln verschwindet und ein dunkelblaues Glitzern über die Gewässer schickt.
Doch „Das Leben in mir“ holt uns sogleich jäh zurück, mit harten Metalriffs und schwerem Schlagzeug, sowie Zeilen wie: „Und auf den Sieg folgt das Leid, nie bleibt das Glück immer oben“. Von jetzt auf gleich stößt uns Joachim Witt wieder in felsige, finstere Gefilde, lässt uns an seiner Seite durch Sträucher, Dornen und über Hügel kriechen, dem Ziel entgegen, mit kämpferischer Ambition und Wunschträumen von der Ankunft ganz oben – wow. Dass diese Reise uns nicht nur an die Grenzen unserer Kräfte, sondern auch durch wundersame und magische Landschaften bringt, uns fordert, aber vor allem mit Euphorie und Glückseligkeit erfüllt, zeigt „Stern“, die Vorab-Single des Albums. An der Seite von Joachim Witt und Claudia Uhle, ihres Zeichens Frontfrau von X-Perience, geben wir uns der Reizüberflutung all dieser wundervollen und überwältigenden Eindrücke hin – über uns sehen wir nicht mehr den Sternenhimmel, sondern gar das All, und „alles scheint so wahr.“ Dieser liebliche und vor Schönheit überfließende Hörbarmacher einer fantastischen Welt voller Dunkelheit, durch welche uns ein mystisches Leuchten den Weg weist, ist gleichzeitig eine Ode an die Liebe, die Sehnsucht und das tiefe Vertrauen: „Durch die Nacht, da führt mich dein Stern (…) Gib mir Kraft, für dich leuchtet mein Stern“.
Das also ist das Ziel von Rübezahls Reise: die Liebe. Weg von der am Anfang erklärten solitären Tristesse hin zu größten Gefühlen, hin zu Mut und Hoffnung. Und zur Liebe gehört auch ein wenig Wahnsinn. „Die Seele“ ist einer der merkwürdigeren Songs auf „Rübezahls Rückkehr“, besteht der Refrain nämlich nur aus diesen zwei Worten, wird in den Strophen mit einigen Echos der NDW eine ganz andere Geschichte erzählt: „Die Zeichen der Zeit veröden im Dickicht der Verantwortlichkeit (…) Verwahrlost sind die Gedanken und zwingen uns bald in die Knie“, ein Sterben, ein Untergang wird hier geschildert, die Transformation und Verwirrung der titelgebenden Seele, die sich dem Sturm ausgesetzt sieht. Noch nie klang Verletzlichkeit und Empfindlichkeit so rockig, so episch, und gleichzeitig fast schon manisch und dekadent.
Doch das Berghorn ruft uns gleich wieder zur Vernunft: von bulgarischen Frauenchören kommen wir auf „Bernstein“ nun zu dunklen Wikingergesängen, voller bildhafter Sprache: „In mir war Liebe zu Stein geworden.“ Ist man nun von der Reise gestählt, versteinert oder gar erfroren? „Bernstein“ beschreibt, wenn wir den Zyklus der Heldenreise zurate ziehen, wohl das Vordringen in die tiefste Höhle, unmittelbar vor der finalen Herausforderung – der Feuerprobe – und dem Erlangen des Elixiers. Genauso wuchtig klingt auch dieser Song. Majestätisch, finster und stark klingt das brummende Skandieren des Refrains – „Wie! In! Bern! Stein!“ – Witt brüllt sich durch Streicher und mächtige Sounds hindurch, lässt die Reise und die eigene Entwicklung Revue passieren und schickt uns auf den Höhepunkt der Geschichte und schließt mit dem verheißungsvollen Satz: „Ich warte auf dich.“
Nun, da die Feuerprobe überstanden ist, erreichen wir das Finale der Geschichte, versehen mit Bläsern und sphärischen Synthies. „Ich spür die Liebe in mir“ ist die ruhigste Nummer des Albums, gleichwohl bäumt er sich zum großen Schlusspunkt auf: die Reise ist an ihrem Ziel angelangt, das Elixier, die Liebe, ist nun im Besitz des Helden, und damit erreicht er auch seinen Seelenfrieden. „Bin wild und von großer Gestalt, lebe gerne tiefer im Wald, bin allein.“ Er findet Zufriedenheit in seiner Welt, verbunden mit der Natur, und glücklich mit seiner Zurückgezogenheit. Gleichzeitig hat diese zauberhaft sentimentale Nummer auch einen großen Abschiedscharakter: „Ruf mich, wann immer du willst, mein Geist steht niemals still für dein Glück“ – fast klingt dieser Song wie ein Requiem, und – was soll ich sagen? – nach dem kompletten Durchhören dieses Albums am Stück treibt einem dieser Song ein Tränchen ins Auge, während man zusammen mit ihm auf das Erlebte zurückblickt.
Fazit: Wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erzählen, und seit langem bin ich von einer Erzählung nicht mehr so tief getroffen und begeistert gewesen wie von Joachim Witt und „Rübezahls Reise“. Ein Album wie ein Wald, massiv, voller Untiefen, magisch und faszinierend. Witt und Harms schaffen es, den Rübezahl-Sound an die Spitze zu treiben, machen keine Gefangenen und gehen in die Vollen. Alles klingt monumental und episch, alles ist konstant auf 100% gedreht, alles ist beeindruckend und famos inszeniert. Dieses Album ist das bisher beste Werk aus der Rübezahl-Reihe und wirkt gleichsam wie der perfekte Höhepunkt, das Grande Finale dieser Saga. Besser, fetter, überwältigender geht es nicht mehr… oder? Wie schon am Anfang angedeutet: an diesem Punkt traue ich Joachim Witt noch alles zu. „Rübezahls Rückkehr“ ist ein furioses Alterswerk, das mit Fug und Recht auf alle Tuben drückt und mich völlig begeistert.
Tracklist:
01 Rübezahl
02 In Einsamkeit (feat. Chris Harms)
03 So fern
04 Shandai Ya (feat. The Mystery Of The Bulgarian Voices)
05 Die Wölfe ziehen
06 Abendwind
07 Das Leben in mir
08 Stern (feat. Claudia Uhle)
09 Die Seele
10 Bernstein
11 Ich spür die Liebe in mir
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Release: 25.02.2022
Genre: Dark Rock
Label: Sony Music/Membran
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