Anne Clark: Das Interview zum neuen Album `Synaesthesia – Classics Re-Worked` (DE)

Anne Clark
Foto: Tine Franckaert

Seit mehr als 40 Jahren nimmt Anne Clark einen einzigartigen Platz in der zeitgenössischen Musik ein. In dieser Zeit schuf sie zahlreiche außergewöhnliche Werke, mit denen die britische Ausnahmekünstlerin große Erfolge und Anerkennung feiern konnte. Mit dem neuen Album „Synaesthesia – Classics Re-Worked“, das am 28. Mai via (FDA / Anne Clark) erscheinen wird, ist es Anne Clark erneut gelungen, ihrem Publikum etwas ganz Besonderes zu bieten. Die Idee zu „Synaesthesia – Classics Re-Worked“ entstand im vergangenen Jahr, das neben der Pandemie, von Annes Krebsdiagnose überschattet wurde. Die Unterbrechung bedeutete, nach neuen Wegen zu suchen, um ihr Publikum zu erreichen. „Live“ Shows und neue Studioaufnahmen waren keine Option. So entstand nach und nach die Idee, ein Album mit „Überarbeitungen“ ihres Materials zu erstellen. Es sollten Remakes und Remixe sein, wie sie von einigen der interessantesten und kreativsten Musiker, DJs und Produzenten der Gegenwart erdacht und realisiert wurden, die derzeit in der elektronischen Musikszene arbeiten. (Quelle: FDA)

Anlässlich der bevorstehenden Veröffentlichung konnten wir von Dark Music World die britische Achtzigerjahre-Ikone Anne Clark für ein Interview (englische Version) gewinnen – aber lest selbst:

01. Bevor wir anfangen, und im Anbetracht der Tatsache, dass du letztes Jahr eine Tour wegen deiner Erkrankung absagen musstest – wie fühlst du dich?

Im Moment geht es mir gut, danke. Es ist möglich, dass mein Krebs irgendwann zurück- kommt, aber ich kann und möchte nicht darüber nachdenken. Ich möchte mich nur auf das Positive konzentrieren. Abgesehen von meiner Erkrankung wäre die Tour ohnehin wegen Covid-19 abgesagt worden. Es war eine bizarre, surreale Zeit, die mein Leben verändert hat, war es für uns alle.

02. Mit „Synaesthesia“ veröffentlichst du eine Art Retrospektive – „Classics Re-Worked“. Der Titel bezieht sich auf ein Phänomen, bei dem Menschen zum Beispiel beim Hören von Musik Farben sehen. Was bedeutet das im Anbetracht dieses Albums für dich?

Genau das. Mein Gedanke dahinter war, dass Musik uns auf so viele Arten und Weisen berührt und mitnimmt, nicht nur durch ihren Klang. Sie entfacht so viele Erinnerungen und Wahrnehmungen. Sie ist wirklich mit unseren Erfahrungen und den Sinnen, mit denen wir diese Erfahrungen machen, verbunden.

03. Wie stark warst du in den „Reworking“-Prozess involviert und wie hast du auf die zu dem Projekt beigesteuerten Remixe reagiert?

Also, zusammen mit FDA habe ich die Künstler, die Songs und die Versionen, die auf das Album gekommen sind, ausgewählt. „Take Control“ habe ich 2019 zusammen mit Solomun geschrieben, und die beiden Versionen von „Entire World“ mit Thomas Rückoldt sind Ergebnisse unserer „Stop Brexit!“-Single. An „Wallies“ habe ich mit herrB für unser Liveset gearbeitet. Ich war auch intensiv am Mastering beteiligt. Mit so vielen so grundlegend unterschiedlichen Tracks war es sehr wichtig, einen übergeordneten Sound für die ganze Platte zu finden. Dank der Zusammenarbeit mit Paul Keeler ist das, denke ich, gut gelungen. Ich war sehr beeindruckt von der Diversität all dieser Ideen von den involvierten Künstlern.

04. Ich sehe dich als eine Person, die sehr gut darin ist, den „Raum zu lesen“, Stimmungen und Situationen einzufangen. Also, warum ist gerade jetzt die richtige Zeit für ein Projekt wie „Synaesthesia“?

Ich habe ja vorhin schon die Idee hinter dem Titel erklärt. Das ist praktisch die „Bedeutung“. Die Zeit ist aus mehreren Gründen reif. Covid-19 und meine Krebserkrankung haben mir das Reisen erschwert (wie den meisten anderen auch). Über die Jahre haben mich so viele Leute angefragt, die mein Material remixen wollten, und es schien eine gute Gelegenheit zu sein, das alles mal zusammenzutragen. Klassische Musik oder Jazz werden auch immer wieder reinterpretiert und neu bearbeitet. Da ich schon seit 40 Jahren Musik mache, hat es sich gerechtfertigt angefühlt.

05. Auf deiner Wikipedia-Seite wirst du nicht zuvorderst als Musikerin, sondern als Poetin klassifiziert. Würdest du dich so auch selbst beschreiben?

Ja, als Schriftstellerin. Meine musikalische Fantasie, meine Vorstellungen von Musik über- steigen meine technischen Fähigkeiten um ein Vielfaches! Deshalb liebe ich es, mit so verschiedenen Musikern zusammenzuarbeiten. Dadurch entsteht ein wunderbares Spek- trum voller Möglichkeiten für die Umsetzung!

06. Über die letzten vierzig Jahre hinweg hast du Musik als das Ventil deines Schreibens benutzt, oft experimentell und ambitioniert, und somit den Fokus nicht nur auf das geschriebene Wort, sondern auch die Betonung und die Performance gelegt. Was hat dich dazu inspiriert?

Ich war immer fasziniert von guten Erzählern. Nicht wegen ihrer Doktrin oder politischer Standpunkte, sondern, weil sie Worte „zum Leben erwecken“ können. Das begeistert mich auf dieselbe Weise wie Musik und ist ein unglaubliches Geschenk in einer Welt voller Sprachen und Geplauder. Ich denke insbesondere an afroamerikanische Prediger, den großartigen Dr. Martin Luther King und die Lyrikerin Gwendolyn Brooks. Patti Smith hat mich auch enorm beeinflusst. Die Leidenschaft in ihren Stimmen lässt es mir kalt den Rücken runterlaufen!

07. Aus der Alternative/Gothic-Szene kommt dir viel Wertschätzung entgegen, und auch in deinen frühen Jahren als Bookerin in England bestand eine Verbindung zu dieser Subkultur. Deine Alben unterscheiden sich zwar genretechnisch stark voneinander, doch sie atmen alle Dunkelheit. Was hat dich daran angezogen.

Jemand hat mal gesagt: „Fröhlichkeit schreibt mit weißer Tinte auf weißes Papier“ (Henry De Montherlant, Anm. d. Red.) und auf gewisse Art und Weise muss ich zustimmen. Es ist nicht so, als hätte ich mir die Schwarze Szene ausgesucht. Tatsächlich weiß ich, dass die Ursprünge meiner Hörerschaft auch weit darüber hinaus reichen. Dunkelheit ist in der Kunst fast immer präsent. In Musik, Büchern oder Filmen kann man Schutz suchen. Sie sind ein Zufluchtsort. Kunst hilft uns, mit unserem Schmerz zu leben, und Schmerz erfährt jeder von uns.

08. Mit einer so langen Karriere, so einer Energie und so viel Innovationswillen, den du hast, sehen dich viele als eine Legende oder sogar die Stimme einer Generation, die fasziniert ist von deinen introspektiven Texten, die innere Konflikte und Verletzlichkeit preisgeben. Wie geht es dir mit solchen Bezeichnungen?

Das sind einige Bezeichnungen! Ich kann nicht wirklich bewerten, wie Menschen mich beschreiben, ich fühle mich nur sehr geehrt, dass Menschen etwas von meiner Arbeit mitnehmen. Ich hatte und habe einen nicht aufhaltbaren Drang, mich und meine Emotionen auf diese Weise auszudrücken, durch Musik und Poesie. Sonst würden meine Gefühle mich zerreißen. So viele Menschen sind verletzlich und von der Welt frustriert. Gewalt jeglicher Art wird immer normaler in unserem Umgang miteinander, und wenn ich einen Job habe, dann den, einen gewissen Widerstand oder eine Gegenposition darzustellen.

09. Heutzutage ist Performance-Kunst wie der Poetry Slam unter jungen Zuschauern sehr erfolgreich. Fühlst du dich damit in deiner Grundidee, den Fokus auch auf die performa- tiven Aspekte deiner Texte zu legen, bestätigt?

Ich finde, es gibt mittlerweile so viele aufregende Spoken-Word-Künstler und Plattformen, es ist großartig. Die jüngeren Generationen sind so motiviert, auch in ihrem Aktivismus, beispielsweise im Rahmen der Klimabewegung. Kommunikation ist lebendig, sonst würden wir uns in Gewalt und Stagnation verlieren. Wenn Poetry Slam/Spoken Word den Menschen Konstruktivität und Kreativität ermöglicht, erreicht es etwas Wundervolles.

10. Auch wenn wir nie in einer idealen Welt gelebt haben, scheint es so, als würde die aktuelle Pandemie uns alle auf die Probe stellen. Wie kommst du mit dem pausierten Leben zurecht?

Tja, ich war ja in einer Art „Doppel-Lockdown“ für das letzte Jahr. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen meiner eigenen Krankheit musste ich mich stark isolieren. Es war eine komische Situation, mit diesen beiden großen Einschnitten gleichzeitig. Aus der Distanz beobachtet denke ich, dass uns so etwas wie das Coronavirus schon lange bevorstand. Die unzähligen Toten und das Leiden der Hinterbliebenen ist schrecklich und bricht mir das Herz. Gleichzeitig aber leidet auch der Planet, die Biodiversität, ein Großteil der Weltbevölkerung, und in unserem moralisch bankrotten System wird es immer schlimmer. Die Menschheit wird sich nie von selbst ändern. Die Kriege und Katastrophen beweisen das. Es ist gut für mich, zu wissen, dass ich in diesem kurzen Moment gelebt habe, in dem die Menschheit sich einschränken musste und die Natur kurz aufatmen konnte. Doch ich fürchte mich vor dem, was die wirtschaftsbesessenen Systeme über uns losbrechen werden, sobald die Welt wieder „normal“ sein wird.

11. Wie schon am Anfang angerissen, war das letzte Jahr sehr traumatisch für dich. In einem Interview hast du gesagt, in den Krankenpflegern und Ärzten Menschlichkeit gesehen und eine neue Wertschätzung für alles im Leben gefunden zu haben. Wie hat sich das auf deine kreative Arbeit ausgewirkt?

Insofern, als dass ich die Schönheit und Dringlichkeit des Lebens verbreiten möchte, die Zerbrechlichkeit und die notwendige Empathie der Menschen.

12. Was kann man von dir lernen?

Von mir? Ich denke nicht, dass ich den Leuten irgendwas beibringen kann. Das ist nicht mein Job. Ich kann ihnen nur meine Erfahrungen anbieten und ihnen etwas geben, an dem sie erkennen, dass sie nicht allein sind.

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