Marilyn Manson – We Are Chaos (CD-Kritik)

Marilyn MansonBrian Hugh Warner war einst ein dürrer Junge aus Ohio, der hin und wieder auf die Rollschuhbahn ging, eine katholische Schule besuchte und Comics malte. Dann wurde er zu Marilyn Manson, und somit Alptraum jeder amerikanischen Mutter in den Neunzigerjahren. Nach Skandalen, Boykottaufrufen, Demonstrationen vor seinen Konzerten, und unzähligen Gerüchten über den selbsternannten „God Of Fuck“ war es ausgerechnet Michael Moore zu verdanken. Er war es, der den Massen mit seiner Doku „Bowling For Columbine“ zeigte: Das Monster kann tatsächlich sprechen. Die Welt erkannte: Marilyn Manson ist ein kluger Kommentator, ein Künstler, der provoziert – und jeder, der Provokation als etwas Schlechtes ansieht, hat ihren Sinn nicht ganz verstanden.

Das ist wiederum alles lange her. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2020 – Marilyn Manson bleibt ein hochinteressanter Musiker, erfährt auch als Maler Anerkennung, gleichermaßen werden erneut Missbrauchsanschuldigungen gegen ihn laut, und so ganz nebenbei versinkt die Welt im Chaos. Chaos ist das Stichwort für Marilyn Manson, der bereits schon vor Jahren in Interviews sagte, dass dies sein Sinn als Individuum auf dieser Welt ist. Mit „We Are Chaos“ legt Manson sein 11. Studioalbum vor, ein Spiegelkabinett voller Emotionen, Rohheit, und, ohne es zu wollen, zu Teilen ein Soundtrack zur Welt, wie wir sie kennen. Gleichzeitig bleibt er seinem Motto, dass Kunst ein Fragezeichen zu sein hat, treu, und lässt dem Hörer viele Lücken zum Füllen offen. Wo ist die Linie zwischen Künstler und Kunst? Manson antwortet gewohnt vieldeutig.

Schon der Opener „Red, Black And Blue“ lässt sehr viel Platz zwischen den Zeilen. Beginnend mit einem Spoken Word, vorgetragen vom Protagonisten höchstselbst, entfaltet sich dieser Song zu einem treibenden, sinisteren Stück Musik, das unter anderem als Abrechnung mit der US-amerikanischen Gesellschaft betrachtet werden kann – „This arrangement is deranged, imagine us engaged in flames“, zusammen mit gewissen Parallelen zum Einstieg in das Debütalbum „Portrait Of An American Family“. Doch die Härte, die uns hier entgegenschlägt, hat zwar einiges gemein mit der industriallastigen Kompromisslosigkeit des Frühwerks, wirkt jedoch gereifter, zeigt mehr Mut zur Melodie, und paart all dies mit einer fast schon kaltblütigen Attitüde, die besonders das Werk des letzten Jahrzehnts von Manson reflektiert.

Es folgt die erste Single und der Titeltrack des Albums – und „We Are Chaos“ ist zweifel- sohne eine Überraschung. Selten klang Manson so pop-affin. An vielen Stellen romantisch, stadiontauglich, versucht der Text sich an einer Einordnung in die Menschheit, oder gar in die Menschlichkeit an sich. „In the end, we’ll all end up in a garbage dump, but I’ll be the one that’s holding your hand“. Mit seinem radiofreundlichen Sound, der hier und da an die Beatles oder auch Bowie erinnert, beweist dieser Song vor allem die Unberechenbarkeit des Künstlers, doch bleibt er mit seiner Dur-lastigen Melodie und Pop-Rock-Klängen relativ einzigartig auf dem Album. Repräsentativ für das Gesamtwerk scheint vielmehr die zweite Single, die einen Tag vor Release ihren Weg auf die Streaming-Plattformen fand: „Don’t Chase The Dead“ strotzt nur so vor apokalyptischen Bildern – Zeilen wie „An ice cream truck in your inferno“ paaren das Harmlose mit dem Tödlichen, eine Mischung wie aus einem Stephen King-Roman. Die Nummer atmet die Buesstimmung von Alben wie „The Pale Emperor“ und kommt gleichzeitig opulenter daher, mit gewissen Killing Joke-Remineszenzen und 80er-Vibes. „If tonight lasts forever, it won’t matter if there’s no tomorrow.“

„Paint You With My Love“ wiederum entpuppt sich als pianolastige Ballade. Country-Legende Shooter Jennings, der dieses Album mit Manson produzierte, bringt uns hier die eine oder andere Erinnerung an Elton John, vervollständigt durch Mansons Gesang, der warm und verletzlich düstere Zeilen hervorbringt, bevor der Song in der zweiten Hälfte seinen MM-typischen Klimax erfährt. Der Übergang zum nächsten Track, „Half-Way And One Step Forward“, erfolgt relativ rapide, und die Dynamik ändert sich auf ein Neues. Erneut haben wir hier eine klavierlastige Ballade, die jedoch weniger einen emotionalen Ausbruch, sondern vielmehr eine Resignation beinhaltet, vollständig mit einem Zitat des großartigen Leonard Cohen. „There’s a crack in everything, that‘s how the sunlight gets in“.

Mit „Infinite Darkness“ wird die B-Seite von „We Are Chaos“ eingeläutet, gleichsam ist dies wohl der Song, der am meisten an Mansons Werk der 90er Jahre anknüpft. Im Refrain hingegen entfaltet sich eine Energie, die mehr an das Album „Born Villain“ erinnert, welches zuvor bereits versuchte, die frühere Manie der Musik zu katalysieren und zu modernisieren. Die Lyrics erzählen von Dringlichkeit. Im Konzept des Albums markiert dieser Song wohl die Position, die zuletzt dem Song „Saturnalia“ auf Mansons letztem Album innewohnte: „Das ist der Punkt, an dem dein Lieblingscharakter entweder überlebt oder stirbt.“ Die Stimmung ist ungeheuer düster, laut und dramatisch, und die Kopfhörer vibrieren. Manson entlässt uns in den Song „Perfume“, der irgendwo zwischen „Rock Is Dead“ und „Cupid Carries A Gun“ schwankt. Ein Stomper mit ansteckendem Refrain und ordentlich Mitgrölpotential – „Get behind me, Satan!“ Welche Bedeutung Zeilen wie „You’re as famous as your pain, victim is chic“ im Anbetracht aktueller Debatten rund um #metoo, teils in Verbindung zu Manson, haben werden, wird sich zeigen. Es bleibt ein Song voller Groove, rockiger Attitüde und Energie.

„Keep My Head Together“ strotzt weiterhin vor Rockstar-Allüren und einer gewissen Fuck-You-Haltung. „Here is your present, let’s take the future“, raunt der mittlerweile 51-jährige da über einen eingängigen Drumbeat, und es herrscht allgemeine Outlaw-Atmosphäre. Aufgeräumt, direkt und mit einer gewissen Rotzigkeit, einem Selbstbewusstsein, auch wenn Manson schon bessere Wortspiele als „I fucking love you, I love fucking you“ hatte. Im Jahr, in dem die allgemeine Öffentlichkeit mit Songs wie „WAP“ beschallt wird, kann Manson damit wohl wenig Land gewinnen. Nichtsdestotrotz überzeugt der Song, genau wie „Solve Coagula“, der vorletzte Track. Mit fast schon magischer, wie betrunken machender Melodie wirkt dieser Song wie eine Selbstreflexion. „No one else I wanna be like, so I stay the same like nobody else“ sagt Manson da, und dieser eigenartig schöne und doch irgendwo schräge Song verfehlt seine Wirkung nicht. Besonders am Ende, wenn Manson halb singend, halb sprechend der am Anfang eingeführten Melodie folgt, entsteht ein besonderer Moment.

Mit „Broken Needle“ kommt „We Are Chaos“ zu seinem Abschluss. Eine weitere Ballade, die Songs wie „The Speed Of Pain“ in nichts nachsteht, entlässt Manson uns mit einigen sehr verletzlichen, persönlich wirkenden Eindrücken in ein eigenartiges Delirium, das sich nach dem Hören dieses Albums einstellt. „Are you alright? ‘Cause I’m not okay […] I am a needle, dig in your grooves, scratch you up, then I’ll put you away“ – Mit Schallplatten- metaphorik verarbeitet Manson das, was uns einige seiner Songs der letzten fünfzehn Jahre bereits mitteilten, mit einer Punktlandung. Das Instrumental ist herzzerreißend, und nach dem Hören bleibt man ratlos zurück. Oft hat man auf diesem Album das Gefühl, Manson persönlich greifen zu können, doch er bleibt mehr Stimmungsgeber, mehr Geschichtenerzähler. „Broken Needle“ ist ein passendes Finale, wunderschön, schaurig, und Manson-typisch voller Fragezeichen.

Fazit: Alles, was man über „We Are Chaos“ wissen muss, findet sich eigentlich im Cover wieder. Ein Bild von Marilyn Manson, ein Gemälde, gemalt von ihm selbst. „Infinite Darkness“ heißt das Selbstporträt. Und wie bei diesem Gemälde hören wir auf diesem Album eine Zusammensetzung aus verschiedenen Farben und Schattierungen, die ein Gesamtbild dessen ergeben, was Marilyn Manson sein könnte. Doch wirklich plastisch ist das Album nicht, der Künstler selbst ist das Werk, wir sehen durch seine Augen. So bleibt uns ein Werk, das gleichermaßen chaotisch und geordnet, gleichermaßen melodiös und roh, gleichermaßen einzigartig und voller Remineszenzen, gleichermaßen seltsam und schön ist. Dieses Kunstwerk verkörpert die Idee Marilyn Manson, die von Person zu Person unterschiedlich ist, auf großartige Art und Weise, in knapp 43 Minuten. Musikalisch ist dieses Werk vielleicht eines der Höhepunkte in seiner Diskographie, einerseits homogen, setzt es sich andererseits aus vielen kleinen Teilen zusammen. Irgendwie passend, dass eines der Merchandising-Produkte für diese Platte ausgerechnet ein Puzzle ist. „We Are Chaos“ beweist die anhaltende Faszination, die von Marilyn Manson als Persona ausgeht, und bereichert den Mythos um einige neue Ansätze, ergänzt durch exzellente Produktion, einige Überraschungen, und offene Enden.

Tracklist:

01 Red, Black And Blue
02 We Are Chaos
03 Don’t Chase The Dead
04 Paint You With My Love
05 Half-Way And One Step Forward
06 Infinite Darkness
07 Perfume
08 Keep My Head Together
09 Solve Coagula
10 Broken Needle

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VÖ: 11.09.2020
Genre: Suicide Rock
Label: Caroline (Universal Music)

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